Die Disinflation nimmt Fahrt auf

Benjamin Melman, Edmond de Rothschild Asset Management
Benjamin Melman / Bild: Edmond de Rothschild Asset Management
Wir befinden uns in einer Übergangsphase. Die Disinflation nimmt Fahrt auf. Der Trend ist aber fragil, da er immer noch von den traditionell volatilen Rohstoffpreisen abhängt, aber die sinkenden Inflationserwartungen der Haushalte und Unternehmen bieten eine solide Grundlage.
Das erste Halbjahr war für die Anleger voller Überraschungen. Die Renditen am Aktienmarkt waren viel besser als erwartet. Die meisten hatten mit einer Rezession gerechnet, die jedoch ohne große Auswirkungen blieb. Die US-Wirtschaft und ihr Finanzsektor erwiesen sich als besonders widerstandsfähig gegenüber einer möglichen Bankenkrise, die schwerwiegender hätte ausfallen können. Das Thema künstliche Intelligenz hat sich exponentiell an den Märkten entwickelt, so sehr, dass die Gewinne des S&P 500 auf eine Handvoll Aktien zurückzuführen sind, die von diesem neuen Trend profitieren könnten. Wir hatten nicht erwartet, dass die Erholung in China so stark ausfallen würde, und bisher ist sie chaotisch verlaufen. Chinesische Aktien sind nach wie vor sehr volatil und weisen keine oder negative Performance-Trends auf. Andererseits haben die USA und Europa bestätigt, dass die Disinflation, wie von uns erwartet, begonnen hat. Die Spannungen in der Produktionskette haben sich fast aufgelöst, und die Energie- und Lebensmittelpreise sind stark gefallen.

Die Disinflation ist noch wackelig, gewinnt aber an Kraft

Den Disinflations-Trend können wir nicht als selbstverständlich ansehen, solange die Lohndynamik in dem anhaltend positiven wirtschaftlichen Umfeld stark bleibt. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) die Anleger ermutigen, weitere Zinserhöhungen zu erwarten. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken hat gelitten, daher sind die Banken gezwungen, ihre Politik mit Nachdruck zu vertreten, um sich wieder Respekt zu verschaffen. Die Geschichte lehrt uns, dass eine verfrühte Lockerung der Geldpolitik in einer Phase starker Disinflation die Zentralbanken dazu zwingen kann, noch weiter zu gehen, wenn sie dann eine Straffung vornehmen müssen.
 
Wenn US-Notenbankchef Jerome Powell wie Paul Volcker (US-Notenbankchef von 1979-1987) in die Geschichte eingehen will, sollten wir bedenken, dass es Volcker erst nach mehreren Versuchen gelungen ist, die Inflation zu bekämpfen. Um sicherzugehen, dass die Inflation tatsächlich unter Kontrolle gebracht wurde, haben die Fed und die EZB klar erklärt, dass sie zuerst gewährleisten wollen, dass der Arbeitsmarkt nicht mehr überhitzt. Lohnerhöhungen von etwa vier bis fünf Prozent, wie sie in den USA und Europa zu beobachten sind, entsprechen einer Inflation von etwa drei bis vier Prozent und nicht dem angestrebten Ziel von zwei Prozent. Die anhaltende Verlangsamung der Inflation wird wahrscheinlich bald auf die Lohnerhöhungen drücken, aber nicht so stark wie erforderlich.
 
Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass von der laxen Haushaltspolitik, die in der Zeit nach dem Kaukasus-Ukraine-Krieg vorherrschte, abgewichen wird, was die Aufgabe der Zentralbanken zwangsläufig erschwert. Interessanterweise ist die „greedflation“* in den USA fast verschwunden und schwächt sich in Europa ab, sodass sich die Chancen auf eine Eindämmung der Inflation verbessert haben.

Die Bewertungen stehen derzeit an einem Scheideweg

Nehmen wir den Fall eines US-Anlegers, der zwischen drei Benchmark-Anlageklassen wählen muss: Geldmarktfonds, Investment-Grade-Anleihen und dem S&P 500. Alle drei bieten Mitte Juni 2023 die gleiche Rendite, als ob die Risikoprämien in den Hintergrund getreten wären. Grundsätzlich spricht heute die Erwartung eines Wachstumsschocks am Horizont für eine Übergewichtung von Aktien, da immer noch die Gefahr einer Rezession besteht. Ein solcher Schock könnte beispielsweise durch die Revolution der künstlichen Intelligenz ausgelöst werden (auch wenn die Aktien, die direkt von der KI betroffen sind, bereits sehr teuer sind). In diesem Szenario kann künstliche Intelligenz enorme Produktivitätssteigerungen in allen Wirtschaftssektoren bewirken.
 
Seit Robert Solows berühmtem Aphorismus ‚Man sieht das Computerzeitalter überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken‘ hat die neue Technologie im Allgemeinen nicht die erhofften Produktivitätssteigerungen gebracht. Dem Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon zufolge hat die Internet-Revolution die Produktivität in den USA in den zehn Jahren zwischen 1995 und 2005 tatsächlich verbessert, allerdings nur für diesen Zeitraum. Das Ausbleiben eines Produktivitätsanstiegs in den anderen Industrieländern ist, gelinde gesagt, rätselhaft. Bei der künstlichen Intelligenz könnte es natürlich anders sein, aber frühere Episoden rechtfertigen ein Mindestmaß an Vorsicht. Darüber hinaus müssen wir auf kürzere Sicht mit ungünstigen Faktoren wie den Bemühungen der Zentralbanken um eine Abkühlung der Wirtschaft, einer drohenden Liquiditätsverknappung und dem Rückgang der „greedinflation“ fertig werden. Daher sind unsere Portfolios in Aktien nur leicht untergewichtet.
 
Bei den Anleihen ist die Tatsache, dass die Zentralbanken die Zinsen über die derzeitigen Markterwartungen hinaus straffen könnten, noch nicht besorgniserregend für die Duration. Das mittlere und lange Ende der Renditekurve könnte in der Tat von der Entschlossenheit der Zentralbanken profitieren, die Inflation zu bekämpfen, um die Zinssätze später zu senken. Und die Hoffnungen können nur durch eine anhaltende Disinflation in den kommenden Monaten genährt werden. Aus diesem Grund sind wir in Anleihen übergewichtet und verfolgen Strategien für Investment-Grade-Anleihen und Hochzinsanleihen guter Qualität. Die Tatsache, dass wir (i) mehr Vertrauen in eine Disinflation haben als in eine neue Ära, in der künstliche Intelligenz die Produktivität antreibt, und (ii) Anleihen gegenüber Aktien bevorzugen, beruht einfach auf dem aktuellen Umfeld. Es besteht nach wie vor das Risiko einer Rezession und einer verringerten Liquidität aufgrund einer Überstraffung durch die Zentralbanken, was die längerfristigen Aussichten, die auf bahnbrechenden Entwicklungen basieren, überschatten könnte.
Benjamin Melman ist Global Chief Investment Officer bei Edmond de Rothschild Asset Manager (EdRAM)
RECHTLICHE HINWEISE: Verfasst am 27. Februar 2023. Dieses Dokument wird von Edmond de Rothschild Asset Management (France) herausgegeben. Dieses Dokument hat keinen vertraglichen Wert und ist nur zu Informationszwecken gedacht. Jegliche Vervielfältigung oder Nutzung des gesamten oder eines Teils des Inhalts ist ohne die Genehmigung der Edmond de Rothschild Gruppe strengstens untersagt. Die in diesem Dokument enthaltenen Informationen dürfen nicht als Angebot oder Aufforderung zur Tätigung einer Transaktion in einer Rechtsordnung angesehen werden, in der ein solches Angebot oder eine solche Aufforderung ungesetzlich ist oder in der die Person, die ein solches Angebot oder eine solche Aufforderung macht, nicht zum Handeln befugt ist. Dieses Dokument stellt keine Anlage-, Steuer- oder Rechtsberatung oder eine Empfehlung zum Kauf, Verkauf oder Halten einer Anlage dar und sollte auch nicht als solche verstanden werden. EdRAM haftet nicht für Investitions- oder Desinvestitionsentscheidungen, die auf der Grundlage der in diesem Dokument enthaltenen Informationen getroffen werden. Die Angaben zu den Wertpapieren stellen keine Stellungnahme von Edmond de Rothschild Asset Management (France) zur voraussichtlichen Entwicklung dieser Wert-papiere und ggf. zur voraussichtlichen Entwicklung des Kurses der von ihnen emittierten Finanzinstrumente dar. Diese Informationen stellen keine Empfehlung zum Kauf oder Verkauf dieser Wertpapiere dar. Die Zusammensetzung des Portfolios kann sich im Laufe der Zeit ändern. Dieses Dokument wurde nicht von der Aufsichtsbehörde eines Landes geprüft oder genehmigt. Die in dieser Präsentation enthaltenen Zahlen, Kommentare, Projektionen und anderen Elemente spiegeln die Meinung von EdRAM über die Märkte und deren Entwicklung wider, wobei der wirtschaftliche Kontext und die bisher verfügbaren Informationen berücksichtigt werden. Sie können an dem Tag, an dem der Investor sie liest, nicht mehr relevant sein. EdRAM kann nicht für die Qualität oder Richtigkeit von Informationen und Wirtschaftsdaten von Dritten verantwortlich gemacht werden. Die Wertentwicklung und Volatilität in der Vergangenheit ist kein Indikator für die zukünftige Wertentwicklung und Volatilität und ist im Zeitverlauf nicht konstant. Insbesondere können sie unabhängig von Änderungen der Wechselkurse beeinflusst werden. «Edmond de Rothschild Asset Management» oder «EdRAM» ist der Handelsname der Vermögensverwaltungseinheiten der Edmond de Rothschild Gruppe. Dieser Name bezieht sich auch auf den Bereich Asset Management der Edmond de Rothschild Gruppe.
EDMOND DE ROTHSCHILD ASSET MANAGEMENT (FRANCE)
47, rue du Faubourg Saint-Honoré, 75401 Paris Cedex 08
Société anonyme, geleitet von einem Vorstand und einem Aufsichtsrat mit
Kapital von 11.033.769 € -AMF-Registrierung Nr. GP 04000015 - 332.652.536 R.C.S Paris
www.edram.frs

Im Artikel erwähnte Wertpapiere

UC S&P 500 4.608,17 N.A.
close

Populäre Aktien