Der Winter naht – Deutschland als Epizentrum der Gaskrise

Robert Lambert, BlueBay Asset Management
Robert Lambert / Bild: BlueBay Asset Management
Die Sorgen um die Erdgasversorgung aus Russland haben in Europa zu deutlich steigenden Gaspreisen geführt. Das wirkt sich wiederum auf die Aussichten für die Industrieproduktion aus und schürt Rezessionsängste, die sich auf die Aktien- und Anleihemärkte übertragen.
 
Etwa die Hälfte der europäischen Haushalte heizt mit Erdgas und ein großer Teil der Industrie wird damit angetrieben. Erneuerbare Energien machen trotz beträchtlicher Investitionen immer noch weniger als 20 Prozent des Energiemix in Europa aus. Die Abhängigkeit von Erdgas für Heizung, Kühlung und Stromerzeugung wird daher bis weit in das nächste Jahrzehnt hinein hoch bleiben.

Gas- und Strompreise dürften volatil bleiben

Die Gaspreise, und damit auch die maßgeblich davon abhängigen Strompreise, dürften bis 2023 volatil bleiben. Verschärft wird die Situation durch eine Reihe zusätzlicher Faktoren wie dem Ausfall von Kernkraftwerken und Trockenheit in Frankreich, Italien und Mitteleuropa. Diese erschwert die Kühlung von Atommeilern und verringert die mithilfe von Wasserkraft erzeugte Strommenge. Dadurch muss wiederum verstärkt Erdgas zur Stromerzeugung genutzt werden.
 
All das hat erhebliche Auswirkungen auf die ESG-Überlegungen von Investoren: Zwei der wichtigsten Fragen drehen sich um die Auswirkungen auf die Energierechnungen der Verbraucher und darum, inwiefern die gestiegenen Kosten an diese weitergegeben werden. Die Krise bei den Lebenshaltungskosten hält an. Wenn die kälteren Monate kommen, könnte es für Menschen in den unteren sozioökonomischen Schichten fatale Folgen haben, wenn sie sich das Heizen nicht mehr leisten können. Daneben verstärken ökologische Gründe die Argumente für eine Abkehr vom Erdgas – selbst als Übergangsbrennstoff.

Ist Kohle nun wieder auf dem Vormarsch?

Wir befinden uns in einer Gaskrise und Deutschland ist das Epizentrum.
 
Vor kurzem ist Deutschland in Phase 2 seines dreistufigen Gasnotstandsplans eingetreten. Damit hat das Land auf die Gefahr reagiert, dass sein wichtigster Gaslieferant Russland die Lieferungen einstellen könnte. In dieser Phase können die Versorgungsunternehmen theoretisch bestehende Gasverträge aufkündigen und höhere Preise an die Kunden weitergeben, um die Nachfrage zu senken. Dazu benötigen sie jedoch zunächst die Genehmigung der Bundesnetzagentur, der deutschen Regulierungsbehörde für den Strom-, Gas-, Telekommunikations-, Post- und Eisenbahnmarkt.
 
Bezeichnenderweise ist der Eintritt in Phase 2 Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Nutzung von Kohlekraftwerken. Die wurden mit dem bis 2030 anvisierten Kohleausstieg größtenteils eingemottet. Dieses Ziel ist nun in Gefahr.
 
Phase 3 schafft dann die Grundlage für die Rationierung von Gas. Sie würde Haushalten Vorrang vor industriellen Verbrauchern einräumen, möglicherweise zu Stromausfällen führen und Deutschland mit ziemlicher Sicherheit in eine Rezession stürzen. Auch aus sozialer Sicht hätte dies Auswirkungen: Untersuchungen haben gezeigt, dass Wirtschaftsabschwünge in der Vergangenheit mit einer höheren Sterblichkeitsrate verbunden waren. In der Regel ist dies in betroffenen Schwellenländern stärker zu spüren. Deutschlands Lieferketten aber sind mit dem gesamten Kontinent verflochten, sowohl mit den Industrie- als auch Schwellenländern. Die Auswirkungen werden daher auf breiter Basis spürbar sein.

Keine kurzfristigen Lösungen

Es gibt nur wenige kurzfristige Lösungen, um die Unterbrechung der russischen Gaslieferungen auszugleichen. Europa plant, die Regasifizierungskapazitäten für Flüssigerdgas (LNG) um mehr als 100 Milliarden Kubikmeter auszubauen. Das entspricht einer Erhöhung um 50 Prozent ausgehend vom aktuellen Niveau, wird aber noch einige Jahre dauern. Die derzeitigen Kapazitäten konzentrieren sich außerdem auf Länder wie Spanien, die nicht über die erforderliche Infrastruktur verfügen, um die Märkte mit dem größten Bedarf – wie Deutschland und Italien – zu versorgen.

Strukturell höhere Gaspreise

In Anbetracht der schwierigen Rahmenbedingungen für die Gasversorgung rechnen wir über den Winter hinweg mit weiterhin hohen Gas- und Energiepreisen. Es besteht ein reales Risiko von Stromausfällen und Rationierungen. Die Gasrechnungen in Deutschland haben sich bereits verdoppelt und könnten sich über den Winter sogar vervierfachen. Die Menschen werden aufgefordert, schneller zu duschen. Die Kommunen sollen die Straßenbeleuchtung einschränken, die Wassertemperatur in den Schwimmbädern senken und sogar die Warmwasserversorgung von Mietern einschränken. Bei industriellen Verbrauchern könnten sich Rationierungen zusätzlich zur Belastung durch die höheren Energiepreise erheblich auf die Produktion auswirken.

Ein Kommentar des jüngst zurückgetretenen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi zum Embargo auf russische Gaslieferungen fasst die Vielschichtigkeit der aktuellen Situation gut zusammen: ‚Wollen Sie eine Klimaanlage oder Frieden?‘ Das aktuelle Umfeld ist für ESG-Anleger nicht einfach.

Die Höhe der russischen Gaslieferungen wird darüber entscheiden, in welchem Umfang eine Rationierung erforderlich ist. Die Annahmen gehen jedoch langsam in Richtung höherer Preise für mehrere Jahre – nicht nur wegen des Kriegs in der Ukraine, sondern auch wegen des allgemeinen globalen Angebotsmangels im Verhältnis zur Nachfrage.

Netto-Null-Ambitionen rücken in den Hintergrund

Die Auswirkungen auf die Umwelt dürften tiefgreifend sein. Die mögliche Einstellung der Gaslieferungen aus Russland oder sogar strukturell geringere Ausfuhren würden höhere Investitionen zur Sicherung der Gasversorgung bedeuten. Diese werden wahrscheinlich zulasten von Investitionen in erneuerbare Energien gehen. Das könnte auch die jüngsten Fortschritte in Richtung des EU-Klimaziels für das Jahr 2030 beeinträchtigen. Denn die Emissionen werden mit ziemlicher Sicherheit ansteigen, wenn weiterhin Kohle zur Deckung des Grundlastbedarfs eingesetzt wird.
 
ESG-Investoren tun gut daran, die Bedeutung der Energiesicherheit angesichts der Auswirkungen höherer Preise auf einkommensschwache Haushalte und einer geringeren Industrieproduktion zu berücksichtigen – bevor sie die Versorgungsunternehmen bestrafen, die zur Deckung des Bedarfs wieder auf Kohle angewiesen sind.

Die Bedeutung eines ‚gerechten‘ Übergangs weg von fossilen Brennstoffen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt. Politische Maßnahmen und Vorschriften sollten entsprechende Bemühungen der Zivilgesellschaft und des Privatsektors ermöglichen und unterstützen. Die Regierungen aber sind dafür verantwortlich, ein Mindestsicherheitsnetz zu schaffen und die Anpassungsfähigkeit zu stärken – um zu verhindern, dass Menschen ohne Wärme oder Licht dastehen.
Robert Lambert ist Portfoliomanager bei BlueBay Asset Management