Spannende Geschäftsmodelle im neuen „Internet der Werte“

Adrian Roestel, Huber, Reuss & Kollegen
Adrian Roestel / Bild: Huber, Reuss & Kollegen
Das Internet steht vor einer neuen Entwicklungsstufe. Wird es bislang vor allem zum Austausch von Informationen genutzt, entsteht nun das Internet der Werte. Darin ist es möglich, Vermögenswerte sicher zu transferieren, ohne dass Banken und andere Intermediäre benötigt werden. Dies könnte erhebliche Auswirkungen auf die Finanzindustrie haben.
Der Begriff Blockchain – oder besser gesagt die Technologie, die dahintersteckt – ist aus der heutigen Finanzwelt kaum mehr wegzudenken. Kryptowährungen wie der Bitcoin, Smart Contracts oder NFTs: All dies sind Anwendungen, die es ohne die Blockchain-Technologie nicht geben würde.
Gemeinsam ist ihnen allen ihre Dezentralität. Das heißt, es gibt keine autoritären Intermediäre, die ihre Existenz, Funktionsweise oder den Wert beeinflussen könnten. Diese Vision eines (Finanz-)Systems, in dem Banken, Lagerstellen, Notare oder Grundbuchämter nicht mehr benötigt werden, ist historisch und ideologisch betrachtet der Schöpfungsgedanke hinter der Technologie.

Im Jahr 2009 wurde unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto das Manifest für das Bitcoin-Netzwerk veröffentlicht. Vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise wurde ein alternatives Zahlungssystem geschaffen, das zwar eine eigene Währung hat, aber ohne Zentralbank auskommt.
Kurze Zeit später erweiterte ein Teenager namens Vitalik Buterin dieses System. Sein Ethereum-Netzwerk besitzt nicht nur eine eigene, digitale Währung (Ether), sondern dient als Plattform für dezentrale Anwendungen, die es Benutzern aus aller Welt ermöglicht, Software zu schreiben oder fälschungssichere, digitale Verträge anzulegen.
 
Dass auf Basis ihrer Ideen und Codes nur wenige Jahre später ein Billionen-Dollar-Business entstehen würde, war den Pionieren Nakamoto und Buterin damals wohl kaum bewusst.

Internet der Werte

Aber Dezentralität ist nicht das alleinige Attribut, welches die Technologie so erfolgreich macht. Besonders ihre Fähigkeit, innerhalb eines Netzwerks Vermögen direkt und sicher von A nach B zu transferieren, macht die Blockchain für viele Branchen erst so richtig interessant. Denn im Gegensatz zum herkömmlichen „Internet der Informationen“ ist es im neuen „Internet der Werte“ jetzt möglich, digitale Werte zwischen anonymen Teilnehmern zu übertragen, ohne dass sich die handelnden Personen vertrauen müssen. Statt eines kontrollierenden Intermediärs erledigt das Netzwerk die Verifizierung und Abwicklung der Transaktionen.

Traditionelle Banken müssen handeln

Vor allem die traditionelle Welt der Banken ist in höchstem Maße daran interessiert, sich die Blockchain zunutze zu machen. Würde sie das nicht tun, könnte die neue Technologie zum Sargnagel vieler Banken werden, die häufig noch mit althergebrachten, zentralisierten Strukturen arbeiten. An neuer Konkurrenz mangelt es nicht, alternative Finanzdienstleistungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Was sie alle eint, lässt sich unter dem Oberbegriff Decentralized Finance, kurz „DeFi“, zusammenfassen.
 
DeFi-Anwender erhalten in erster Linie Zugang zu Kryptowährungen, die dann gehandelt, gewinnbringend investiert oder beliehen werden können. DeFi steht damit in unmittelbarem Wettbewerb zur Produktpalette der klassischen Banken.

Innerhalb der DeFi-Welt gibt es die unterschiedlichsten Anwendungen. Zu den aktuell beliebtesten zählen Lending & Borrowing, Liquidity Mining und Staking.
 
Beim Lending & Borrowing handelt es sich im Prinzip um das digitale, dezentrale Pendant zum klassischen Kreditgeschäft: Halter von Kryptowährungen können ihre Coins auf einer Plattform anderen Usern anbieten und erhalten dafür eine Verzinsung. Da Laufzeit und Zinssatz auf der Blockchain in einem sogenannten Smart Contract festgeschrieben sind, erfolgen Ausschüttung und Rückzahlung ganz automatisch. Die Kreditnehmer können die geliehenen Coins in der Zwischenzeit beispielsweise zum Staking einsetzen. Das Liquidity Mining funktioniert ähnlich. Die eingesetzten Coins werden hier aber keinem anderen User, sondern einer dezentralen Kryptobörse zur Verfügung gestellt. Diese sorgt mit dem eingesammelten Kapital dafür, dass der Markt für Kryptowährungen liquide ist. Die Eigentümer erhalten in diesem Fall keinen Zins, sondern einen Teil der Transaktionskosten, die die Börse beim Handel mit Kryptowährungen einnimmt.
 
Ganz anders verhält es sich beim Staking. Hier setzen Besitzer ihre Kryptowährungen dazu ein, die Blockchain weiterzuschreiben und neue Datensätze (Blocks) zu erzeugen. Als Belohnung erhalten sie dafür neue, digitale Münzen. Dies funktioniert jedoch nur bei Netzwerken, die auf dem sogenannten Proof-of-Stake-Konsens basieren. Diese Netzwerke sind so konstruiert, dass per Zufallsprinzip bestimmt wird, wer den nächsten Block erzeugen darf. Je größer der eingesetzte Betrag („Stake“) ist, desto besser sind die Chancen, ausgelost zu werden – und eine Belohnung zu erhalten.

Ein Smartphone reicht

Um DeFi-Anwendungen nutzen zu können, reicht ein Smartphone. Damit sind Finanzdienstleistungen auch für Menschen, die über kein Bankkonto verfügen oder generell keinen Zugang zum Finanzsystem haben, rund um die Uhr verfügbar. Die Kosten für Anwender sind in der Regel gering und die Chancen, das eigene Kryptogeld gewinnbringend zu investieren, durchaus realistisch. Zudem scheint es so, als würde gerade die Deregulierung eine ganz neue Klientel anziehen, da keine persönlichen Daten durch Dritte verarbeitet werden.

Demgegenüber stehen jedoch auch Risiken. Wie unausgereift der Markt noch ist, zeigt der Skandal bei der dezentralen Finanzplattform Celsius, die vor wenigen Tagen alle Abhebungen und Überweisungen zwischen Konten auf unbestimmte Zeit einfror. Als Begründung wurden die „extremen Marktbedingungen“ genannt. Die Maßnahmen seien notwendig, „um Celsius in eine bessere Lage zu versetzen, seinen Abhebungsverpflichtungen langfristig nachzukommen.“ In den Wochen davor hatte Celsius massive Abflüsse verzeichnen müssen, dies wird nun offenbar zum Problem. Celsius Network ist einer der bedeutendsten Krypto-Kreditgeber der Branche. Er verleiht Kryptowährungen, vergibt mit Kryptowährungen besicherte Kredite oder bietet Krypto-Sparpläne an. Das Unternehmen hat 1,7 Millionen Kunden und hielt Ende Mai Vermögenswerte über 12 Milliarden US-Dollar.

Risiken und Potential

Ein weiteres Risiko ist die rechtliche Situation. Immer wieder werden sehr kritische Töne aus der Politik laut, die Regulierung und Verbote fordern. Auch technische Sicherheitslücken und Cyberkriminalität (z.B. Passwortdiebstahl) gehören zu den relevanten Gefahren. Zudem schwanken die Kurse der Kryptowährungen stark, wodurch erzielte Gewinne innerhalb kürzester Zeit durch Kursverluste wieder aufgezehrt sein können. Und last but not least tragen steigende Kapitalmarktzinsen dazu bei, dass die Attraktivität von alternativen Anlagemöglichkeiten abnimmt – wie der gegenwärtige Kursverfall bei Bitcoin und Co. anschaulich vor Augen führt.
 
Trotz dieser Risiken und noch vielen Unsicherheiten hat der DeFi-Markt das Potential, die Finanzindustrie zu verändern und mitzugestalten. Schon heute verzeichnen dezentrale Kryptowährungsbörsen, die automatisierte Transaktionen auf der Ethereum-Blockchain durch die Verwendung von Smart Contracts erleichtern, Handelsvolumina, die sich mit jenen von traditionellen Börsen messen lassen.
Adrian Roestel ist Leiter Portfoliomanagement bei Huber, Reuss & Kollegen Vermögensverwaltung