Georg von Wallwitz: Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war

Eine Rezension von Ulrich Kirstein
Bilder: Berenberg Verlag
Soviel vorab und es muss auch einmal gesagt sein: Es ist ein sehr schönes Buch, die Grafik, die Haptik, die Gestaltung, die Fadenheftung, man nimmt es gerne zu Hand, der erste Schritt, es auch zu lesen, ist gemacht, dem Verlag sei es gedankt. Dass wir es auch gerne gelesen haben, verdankt sich wiederum dem Autor, Georg von Wallwitz, studierter Mathematiker und Philosoph sowie versierter Vermögensverwalter. Ihn zeichnet aus, Bildung und Finanzen, eine lebendige Schreibe und tiefgründige Analyse unter einen (Doktor-)Hut zu bekommen. Aber lohnt es sich, in diesen Zeiten, in denen das Gespenst der Inflation wieder aufscheint, sich mit der Hyperinflation der 1920er Jahre zu befassen?

Die Inflation im kollektiven Bewusstsein

„Während die windigen Schwarzmarkthändler ihr Glück zu fassen versuchten, wussten Beamte, Pastoren und die meisten anderen Stützen der Gesellschaft kaum, wie ihnen geschah. Die Umwälzung der Preisverhältnisse führte zur Umschichtung der Besitzverhältnisse und produzierte damit sozialen Sprengstoff erster Güte“. Mit diesen einleitenden Worten ist bereits viel gesagt über die fatalen Auswirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte und warum uns die Angst vor Inflation bis heute kollektiv tief in den Knochen sitzt, obwohl wir die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre nur aus Erzählungen unserer Großväter und Großmütter kennen. (Inzwischen bei vielen wohl eher der Urgroßmütter und -väter). Die Inflation und ihre fatale Wirkung haben nahtlos Hitler an die Macht gebracht und das Ende der Weimarer Republik eingeläutet, so die landläufige Meinung. Aber stimmt dieser Topos überhaupt? Dieser Frage geht Georg von Wallwitz in seinem neuesten Buch nach und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Dass nämlich die Zeit der Inflation eine Zeit der Vollbeschäftigung war und die Nazis, die doch angeblich von dieser Krisensituation an die Macht gespült wurden, am Ende der Inflationszeit im Mai 1924 gerade einmal mickrige 6,5 Prozent der Stimmen erhielten.

Inflation oder Schwarzer Freitag

Wir verwechseln die Inflationszeit, die bereits 1914 mit Kriegsbeginn einsetzte und etwa bis 1923 dauerte, mit der Zeit nach dem Schwarzen Freitag 1929, als Deflation und Massenarbeitslosigkeit vorherrschten. Eine weitere These des Autors: Die kollektive Erfahrung der Inflation lähmt uns bis heute, denn die Deutschen suchen bei ihrer Geldanlage eine Sicherheit, die unrealistisch ist und verlieren deshalb Geld, weil sie es lieber unter die Matratze stecken, als es an der Börse anlegen. „Die Hausse an den Aktienmärkten ist an der Mittelschicht, aus der die klassischen Sparer nach wie vor stammen, weitgehend vorübergegangen“, so von Wallwitz, der es als selbstständiger Vermögensverwalter wissen muss.

War die Inflation das wahre Ende des Ersten Weltkrieges?

Von Wallwitz macht die Inflation vor allem an vier Männern fest, die die Politik und Wirtschaft bereits während des Ersten Weltkriegs und über die – in Deutschland eher harmlos verlaufende – Revolution hinweg bestimmten. (Kleine Anmerkung: Auch wenn die Revolution und vor allem ihre Niederschlagung gerade in München nicht so ganz harmlos verlief - eine allzeit gültige Beurteilung gab der Mit-Revolutionär Erich Mühsam in seinem Gedicht „War einmal ein Revoluzzer, im Zivilstand Lampemputzer“). Diese Personalisierung trägt zur Veranschaulichung bei und macht das Buch zur spannenden Lektüre: Karl Helfferich, Rudolf Havenstein, Walter Rathenau und Hugo Stinnes sind die Kulminationszentren der Zeit. Alle vier starben eines nicht natürlichen Todes – und erst nach ihrem Abgang war die Inflation überwunden, (k)ein Zufall!

Vier Männer und die Inflation

Da wäre der seit 1915 als „Finanzminister“ agierende Karl Helfferich, Ökonom und versierter Geldtheoretiker, aber auch deutschnationaler Hetzer bis in die Knochen. Er finanzierte die gewaltigen Kriegskosten des Deutschen Reiches über Schulden, und nicht über Steuererhöhungen der prosperierenden Kriegsindustrie, in der Hoffnung, die Besiegten würden einst die Zeche zahlen. Durch die quasi Zweitwährung in Form von Darlehenskassenscheinen konnte während des Ersten Weltkrieges unabhängig von der an den Goldstandard gekoppelten Reichsmark Geld vermehrt und Milliardenkredite ausgegeben werden – der Grundstein der Inflation war gelegt, ob aus Absicht oder Versehen, muss offen bleiben, so von Wallwitz. Nummer zwei war die vielleicht schillerndste und interessanteste Persönlichkeit der Zeit, Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, Wirtschaftsführer mit Hang zu Kunst und Kultur, der im Kriegsministerium die von Helfferich beschafften Gelder für die notwendigen Ressourcen des Militärs wieder ausgab und später in der Weimarer Republik dafür sorgen musste, die gewaltigen Reparationen aufzubringen. „Rathenau war das Gesicht der Erfüllungspolitik, die den Staatshaushalt über die Grenzen des wirtschaftlich Vernünftigen hinaus strapazierte und das Land immer weiter von der Kreditwürdigkeit entfernte“, so von Wallwitz. Seine Ermordung  durch rechte Antisemiten führte zu einer breiten Solidaritätswelle für die Republik. Unterstützt wurde diese Politik durch das Nichtstun der Zentralbank unter ihrem Direktor Rudolf Havenstein, der in Treue zum Reich bereits während der Kaiserzeit in dieser Funktion gedient hatte und seine Aufgabe vor allem darin sah, das Reich und die Republik mit ausreichend Geld zu versorgen – die Gelddruckmaschinen liefen wie geschmiert. Ausreichend Geld konnte er drucken (lassen), ausreichend Nahrung für sich jedoch nicht auftreiben, wie von Wallwitz anmerkt. Letzter im Bunde war der Kriegs- und Inflationsgewinnler Hugo Stinnes, der ein eindrucksvolles Unternehmenskonglomerat auf Kredit schuf, das vertikal strukturiert war, so dass er von der Rohstoffgewinnung bis zum Endprodukt alle Verarbeitungsstufen kontrollieren konnte. Zuletzt hatte er über 600.000 Beschäftigte, doch das Ende der Inflation brach ihm (fast wörtlich) das Genick.

Aktien gegen Inflation

Wie das Zusammenspiel und Zusammenwirken dieser vier Männer letztlich unheilvoll in die Hyperinflation mündete, schildert von Wallwitz nuanciert und mit dem notwendigen Tiefgang, aber ohne komplizierten Ballast. In einer Fußnote zeigt sich der echte Vermögensverwalter, denn dort führt er auf, in welche Aktien sinnvollerweise während Inflationszeiten investiert werden sollte, zum Beispiel in Aktien von Handelsunternehmen, Banken und Rohstoffproduzenten. Überhaupt schafft es von Wallwitz immer wieder, Bezüge zur heutigen Zeit und Geldanlage aufzuzeigen, es ist eben nicht das Werk eines reinen Historikers. Mehr als interessant gerade in unserer aktuellen Situation seine auf Friedrich Nietzsche zurückgehende Beschreibung des Ressentiments, das weite Teile der deutschen Bevölkerung während der Weimarer Republik aufgrund der unnachgiebigen Haltung insbesondere Frankreichs einnahmen - das Ressentiment als „ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele“ ist uns heute ja auch nicht ganz fremd.

Das Buch mit Erscheinungsdatum Oktober 2021 ist vor dem aktuellen Wiederanstieg der Inflation geschrieben, doch nach der Lektüre wird dem aufmerksamen Leser zweierlei klar: Inflation ist nicht gleich Inflation und eine zu große Angst wirkt kontraproduktiv. Inzwischen ist die (Wirtschafts-)Politik bei aller Kritik ein ganzes Stück weiter als noch vor 100 Jahren. Jede Inflation endet, so der Autor, „wenn Geld wieder Zeichen des Vertrauens in der Gesellschaft ist. Wenn es entpolitisiert wird.“

Georg von Wallwitz: Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war
Berenberg Verlag
ISBN 978-3-949203-09-I
320 Seiten, 25 Euro