Die Fäden der Moderne – oder von der Kurzweil des Gobelins

Ulrich Kirstein
Bild: Joan Miró, Komposition Nr. 1, Frau am Spiegel, 1966, Slg. Mobilier national, © Successio Miró / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Mobilier national
„Wie langweilig wird das denn“, schallte es Roger Diederen, Direktor der Kunsthalle München, entgegen, wenn er im Vorfeld begeistert über seine geplante Ausstellung über französische Gobelins des 20. und 21. Jahrhunderts berichtete. So erzählte er es zumindest kurz vor der Eröffnung der Schau der Presse und das Weben und Teppiche gelten ja allgemein nicht gerade als cooles Highlight der Kunstszene. Tatsächlich kann man sich aber seit dem 6. Dezember in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in den Fünf Höfen persönlich davon überzeugen, wie ganz und gar unpassend dieses Urteil ist. Denn die Ausstellung zeigt zweierlei: Wie kongenial moderne Kunstwerke von Pablo Picasso bis Louise Bourgeois in das Metier der Gobelins übersetzt werden können und dass diese Gobelins darüber hinaus zu eigenständigen Kunstwerken mutieren, somit eine ganz eigene, faszinierende „Aura“ ausstrahlen.

Sehr viel mehr als nur Kopien von Gemälden

Alexander Calder (1898–1976) Komposition, 1966 Manufacture des Gobelins 294 × 383 cm, Wolle Sammlung Mobilier national © 2019 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York, Foto: Isabelle Bideau
Gezeigt werden in der erstmals in Deutschland organsierten Ausstellung ausschließlich Exponate aus der staatlichen Pariser Manufacture des Gobelins nach den Entwürfen von Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts. Neben Meisterwerken von bekannten Größen wie Picasso, Matisse, Miró oder Le Cobusier finden sich auch Tapisserien, die zwischen den Kriegen die Größe Frankreichs glorifizieren wollten und dem Exotismus der Kolonien frönten, wie etwa Der Mekong von Pierre-Henri Ducos de la Haille von 1935 -1937. Aus der Abhängigkeit von der Malerei lösen wollte hingegen Jean Lurçat in den 1930er Jahren die Kunst der Tapisserien, indem er großformatige Werke mit stark reduzierter Farbgebung schuf.

Von Pablo Picasso bis Patrick Tosani

Jean Messagier (1920–1999): Die Gleichförmigkeit des schönen Wetters, 1969-1971 Manufacture des Gobelins 296 × 478 cm, Wolle Sammlung Mobilier national © Jean Messagier / VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Isabelle Bideau
Doch am faszinierendsten sind sicherlich die Werke von Künstlern der klassischen Moderne, die das breite Kunstspektrum aufzeigen: so etwa die schwungvollen, den Farbverlauf widergebenden Arbeiten eines Alexander Calder, die flächigen Farborgien von Henri Matisse, die bunte Lebhaftigkeit von Joan Miró oder die Ideenfreude eines Pablo Picasso. Gerade auch bei den abstrakten Werken strahlen die Tapisserien eine warme, sinnliche Schönheit aus, egal ob sie Victor Vasarelys  Op-Art oder Sonja Delauneys Farbkreise nachempfinden. Unterstützt wird dieser Eindruck noch durch die jeweilige Farbgebung in der Ausstellung mit den insgesamt neun Räumen und Kapiteln.
 
Dass selbst heftige Pinselstriche wie bei Jean Messagier kongenial in einen Gobelin übersetzt werden können, ist in der Ausstellung genauso zu sehen wie die Steigerung ins Dreidimensionale mit Arbeiten der großen Bildhauerin Louis Bourgerois. Besonders beeindruckend hier ihre heilig fröhlich kopflose Sebastiana samt Pfeilen. Oder das abstrakte, wellenförmig in den Raum greifende Werk von Alicia Penalba und Edouardo Chillida. Dass selbst fotorealistische Arbeiten möglich sind, beweisen die Werke von Patrick Tosani oder Raymond Hains, der den Rahmen seiner Arbeit als Computer-Frame gestaltete.

Einzigartiger Einblick in eine traditionsreiche Kunst

Louise Bourgeois (1911–2010) Heilige Sebastiana, 1995–1997 Manufacture des Gobelins
344 × 244 cm, Wolle, Baumwolle, Leinen, Seide Sammlung Mobilier national © The Easton Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Isabelle Bideau
Auf die Einzigartigkeit der Werke und der Ausstellung wies Diederen ausdrücklich hin, denn diese Exponate sind für eine breite Öffentlichkeit so gut wie nie zu sehen – da sie entweder im Fundus der Manufacture des Gobelins aufbewahrt oder im Elysee-Palast aufgehängt sind – und zu den dort geladenen Gästen zählt man in der Regel eher weniger. Die Manufaktur war bereits von Ludwig XIV. ins Leben gerufen worden, um der Ausstattung seiner zahlreichen Schlösser, insbesondere von Versailles und dem Louvre, zu dienen.
 
Das Weben der Gobelins ist hohes Kunsthandwerk, das an der staatlichen Institution noch gepflegt und gelehrt wird, damit diese Kunstfertigkeit bewahrt wird, nicht zuletzt auch zu Restaurierungszwecken. Vier Jahre dauert die Ausbildung und auch danach werden die Weberinnen und Weber – bis zum Ersten Weltkrieg war das Weben Männern vorbehalten, heute gilt es als Frauenberuf – noch weiter von einem Meister als Trainee betreut. Allein über 15.000 Farben beherbergt die Pariser Manufaktur, um auch jeden Pinselstrich eines Gemäldes „nachzeichnen“ zu können. Bis zu zehn Jahre kann es außerdem dauern, bis ein Gobelin fertig gewebt ist - von mehr als einem Weber, wohlgemerkt.
Die Ausstellung ist noch bis 8. März zu sehen, täglich geöffnet von 10 – 20 Uhr, mehr Informationen zu Führungen und dem umfangreichen Begleitprogramm gibt es hier.
Wie immer ist zur Ausstellung ein schöner Katalog aus dem Hirmer Verlag erschienen mit u.a.  Beiträgen der Ausstellungsmacher Roger Diederen und Carina Kaminski (München) sowie Lucile Montagne und Gérald Remy (Paris).