Eine ganze besondere (Heimat-)Bindung

Von Ulrich Kirstein
Oktoberfest / Bild: BBAG
Dass in München wieder »Wiesn« ist, die fünfte Jahreszeit, das zeigt sich schon einige Tage vor dem eigentlichen Start. Im Weichbild der Stadt tauchen mehr und mehr Trachten auf, kurze und lange Lederhosen und kurze und lange Dirndl in bunten Farben. Und während am ersten Wiesnsonntag die professionellen Trachtenträger, organisiert in Vereinen und Musikgruppen, feierlich Einzug halten, tummeln sich rund um und auf der Wiesn die meisten Menschen in Dirndl und Lederhosen – »Zivilisten« werden zur Ausnahme.
 
Die »Range« – um es neubajuwarisch zu nennen – reicht dabei von knappen Billigstdirndln, deren eingewebte Giftstoffe wahrscheinlich ausreichen, eine mittlere Ungezieferpopulation auszurotten, über Plastiklederhosen bis zur echten »Hirschledernen« oder dem bodenlangen Samtdirndl aus hippen Designer-Läden. Solchermaßen kostümiert zeigen sich Hanseaten, Chinesen, Australier, Italiener und natürlich auch Bayern und sogar der eine oder andere echte Münchner. Da stellt sich die Frage: Was bedeutet das Tragen der Tracht eigentlich? Soll damit eine besondere Heimatverbundenheit gezeigt werden, ist es ein Zeichen funktionierender Integration oder ist es doch die reine Lust an der lustigen Verkleidung?

Ein eher neuer Trend

Ein kurzer Blick in ältere Reiseführer über München genügt, um festzustellen, dass noch in den 1970er-Jahren das Tragen einer Lederhose auf der Wiesn – abgesehen von Kindern im Vorschulalter – die absolute Ausnahme darstellte. Man könnte also annehmen, dass die damals kindlichen Lederhosenträger in Reminiszenz an ihre eigene Vergangenheit auch heute wieder in eine »Kurze« steigen. Das würde auch ihr oftmals zu beobachtendes Verhalten auf der Wiesn erklären, das man als durchaus »kindlich«, besser noch »kindisch« bezeichnen könnte. Aber es sind ja vor allem junge Leute aus allen Ländern dieser Welt (und vor allem den deutschen Bundesländern jenseits von Bayern), die sich in Trachtenschale werfen.

Tracht kommt von Tragen

Prinzipiell kommt das Wort »Tracht« ganz simpel von »Tragen«, nämlich einer Kleidung, und setzt damit historisch gesehen mit der Vertreibung aus dem Paradies ein, auch wenn sich die »Blattmode« nicht durchsetzen konnte. Landläufig im wahrsten Sinne herrscht die Meinung vor, Tracht sei identisch mit bäuerlicher Kleidung. Das negiert allerdings die Tatsache, dass sich die Bauern an der jeweils vorherrschenden Hoftracht orientierten und diese mit ihren Mitteln nachahmten. Tracht ist also nie nur praktisch, sondern immer auch dem Diktat der Mode und damit auch der kontinuierlichen Veränderung unterworfen, wobei die Geschwindigkeit des Modewandels hier eher gedimmt ist und den Städtern und höfischen Vorbildern eindeutig hinterherhinkt. Umgekehrt gab es einen Rückfluss der ländlichen Tracht in die Stadt hinein – nicht zuletzt das Dirndl und die kurze Lederhose legen davon Zeugnis ab. Einzelne Repräsentanten bajuwarischer Tracht im Ausland konnten diese dort nicht nachhaltig populär machen wie etwa das Beispiel Oskar Maria Graf während seines Exils in den USA belegt, der gerne in New York eine kurze Lederhose trug.

Lange Hosen als Bekenntnis

Das, was wir heute unter Tracht verstehen – oder eher missverstehen –, ist die oberbayerische Gebirgstracht. Dabei trug der Mann eine Lederhose, die Frau ein Dirndl. Zu den bekanntesten und meist kopierten Trachten dürften die Miesbacher und die Chiemgauer Tracht zählen. Kurze Lederhosen waren bei den Gebirglern der Jagd und der Arbeit vorbehalten, als Festtagshose dienten lange Kniebundhosen, die die Bauern der Hoftracht, der sogenannten Culotte, abgeschaut hatten. Während die Landbevölkerung an den praktischen ledernen Kniebundhosen festhielt, wechselten die Städter aus Bürgertum und Handwerk infolge der Französischen Revolution demonstrativ zum langen Beinkleid (Sansculottes). Sie wollten damit dezidiert zum Ausdruck bringen, dass sie von ihrer Hände (oder ihres Kopfes) Arbeit leben – im Gegensatz zum Hofschranzentum.

Erste Welle der Begeisterung

Eine erste Welle der Begeisterung über das Tragen von Tracht kam (erst) Mitte des 19. Jahrhunderts auf, weil diese im Zuge der Verstädterung immer seltener getragen wurde. So gründeten sich erste »Trachtenvereine« zur Pflege des Brauchtums, zum Beispiel die »Gesellschaft Gemüthlichkeit« in Miesbach 1883. Ein großer Anhänger der bayerischen Gebirgstracht war schließlich Prinzregent Luitpold, der Nachfolger des Märchenkönigs Ludwig II. Der bereits betagte Luitpold trug auf der Jagd gerne die kurze Lederne – im Winter auch mal mit einer langen weißen Unterhose kombiniert, ein Kleidungsstil, der sich nicht durchgesetzt hat, obwohl es durchaus kalte Wiesntage gibt. Allenfalls findet die Kombination von kurzer über langer Hose in der Bundesliga bei dem einen oder anderen Spieler zur Winterszeit Nachahmer.

Von der Tracht zur Faschingsverkleidung

Während bis ins 18. Jahrhundert die Tracht eher Ausdruck des Standes als Zeichen einer bestimmten Region war, änderte sich das zunehmend. Heute kann man höchstens noch anhand der Stoffe und der Qualität und damit der Preise Rückschlüsse auf die Tracht tragenden Personen nehmen, während Trachtenvereine akribisch an dem jeweils regionalen Outfit festhalten. Je mehr Tracht im Übrigen als Ausdruck von Brauchtum gesehen und nicht mehr im Alltag getragen wird, umso weniger handelt es sich um Tracht im eigentlichen Sinne! Eher werden hier Klischees bedient – zum Beispiel in der sogenannten Volksmusik. Als böse Zunge könnte man von einer Art Kitschklamotten sprechen. Da das Oktoberfest nicht unbedingt unsere Alltagswelt widerspiegelt, deutet das Tragen von Tracht auf der Wiesn deshalb eher auf eine inzwischen fast erwartete Bedienung des Klischees Wiesngaudi hin als auf eine tatsächliche Rückbesinnung und Bindung an Bayern und das Bayerische. Dafür spricht auch die Tatsache, dass von vielen Nicht-Bayern die Tracht neben der Wiesn auch gerne im heimischen Karneval getragen wird - als das, als das sie empfunden wird: reine Verkleidung.

Als Pressesprecher der Bayerischen Börse AG fühlt sich der Autor mehr und mehr unter Druck gesetzt, sich in ein ledernes, eventuell sogar kurzes, Beinkleid zu flüchten. Bis jetzt widersteht er dem in der Tradition des Sansculotten. Aber, um es mit einem Idol zu halten, das meines Wissens noch nie in Lederhosen aufgetreten ist, man soll niemals nie sagen!