Hoffnungsschimmer für die zweite Jahreshälfte

Adrian Roestel, Huber, Reuss & Kollegen
Adrian Roestel / Bild: Huber, Reuss & Kollegen
Das erste Halbjahr 2022 war an Dramatik und Negativrekorden kaum zu überbieten. Dass Russland die Ukraine überfallen würde und mitten in Europa plötzlich wieder Krieg herrscht, war und ist für alle ein Schock. Darüber hinaus hatten weder Notenbanken, Analysten noch Anleger mit einem derart starken und dauerhaften Anstieg der Inflation gerechnet, wodurch sich die meisten Zentralbanken zu einem Kurswechsel gezwungen sehen. Vom Optimismus zum Jahresstart über das erste, von Corona halbwegs unbelastete Wirtschaftsjahr ist nichts mehr zu spüren. Sorgten sich die Investoren zum Jahreswechsel noch davor, ob die stark wachsende Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern überhaupt erfüllt werden könne, dominiert jetzt die Angst vor einer Rezession. Die Gelassenheit der Zentralbanker im Umgang mit der Inflation hat sich umgekehrt. Nun wird ein harter geldpolitischen Kurs mit schnellen, starken Leitzinsanhebungen und einem deutlichen Liquiditätsentzug verfolgt, um die Inflationserwartungen in Zaum zu halten. Die Prioritäten sind klar gesetzt: Besser jetzt eine Rezession erzwingen, um die Inflation loszuwerden, als eine zu schwache Reaktion, die dann dauerhaft höhere Zinsen erfordert und die Wirtschaft über Jahre dahinsiechen lässt.

Quartett aus negativen Überraschungen

Enttäuscht wurden auch die Hoffnungen auf ein Ende der coronabedingten Verwerfungen. Chinas Regierung hielt eisern an ihrer Null-Covid-Strategie fest. Im Frühjahr waren zeitweise über 400 Millionen Chinesen in ihren Wohnungen, Büros oder Isolierungslagern im Lockdown gefangen. Die Folge: Produktion, Binnenkonsum und Außenhandel litten massiv. Vor allem aber verschärften sich die Lieferkettenprobleme erheblich, anstatt – wie erwartet – zur Jahresmitte auszuklingen.
Dieses Quartett aus negativen Überraschungen – rekordhohe Inflation, geldpolitische Härte, kriegsbedingte Knappheiten und chinesischer Wachstumseinbruch – ließ die Kurse an den Aktien- und Rentenmärkten auf breiter Front einbrechen. Befeuert durch den russischen Angriffskrieg schossen die Energiepreise so stark in die Höhe wie seit den Ölkrisen der 1970er Jahre nicht mehr. Agrar- und Industrierohstoffe verteuerten sich ebenfalls im Eiltempo.

Folgen historischen Ausmaßes

Die Folgen an den Kapitalmärkten haben historische Ausmaße: Der US-Aktienmarkt erlebte das schlimmste Halbjahr seit 1962. Die Kurse von zwei Dritteln der 500 größten US-Unternehmen sanken prozentual zweistellig. Einzig der Energiesektor schloss die ersten sechs Monate mit einem positiven Vorzeichen ab. Nahezu alle großen westlichen Aktienmärkte befinden sich zur Halbjahreswende in einem „Bärenmarkt“, der sich durch Verluste von über 20 Prozent vom Hochpunkt definiert. An den Anleihemärkten war die Entwicklung noch dramatischer. Der schnellste Anstieg der weltweiten Renditen seit 30 Jahren mündete in historisch hohen Verlusten globaler Anleihen. US-Staatsanleihen erlitten das schlechteste erste Halbjahr aller Zeiten. Unternehmensanleihen guter Qualität verloren genauso stark wie die Aktienmärkte.

Aktien statt Anleihen

Dazu kamen Volatilitäten, die Erinnerungen an die großen Finanzkrisen wachriefen. Tägliche Schwankungen von 3-4 Prozent bei den großen Börsenindizes ängstigen selbst erfahrene Anleger. Noch beunruhigender ist aber die Schwankungsintensität an den Geld- und Anleihemärkten, die in Kombination mit den historisch hohen Verlusten dieser vermeintlich „sicheren Häfen“ den Druck auf die risikoreicheren Anlagen verstärkte. Große institutionelle Investoren sahen sich gezwungen, zusätzlich Aktien zu verkaufen, um die Risiken in ihren gemischten Portfolios zu reduzieren. Hinzu kommt: Die Liquidität an den Anleihemärkten ist derart ausgetrocknet, dass Verkäufe von Unternehmenstiteln kaum oder nur zu irrational niedrigen Briefkursen möglich sind. Inzwischen schlagen große Investoren schon ihre Private-Equity-Beteiligungen mit immensen Abschlägen los.

Erste Anzeichen für Entspannung

All das klingt nicht so, als würde die Serie negativer Entwicklungen in der zweiten Jahreshälfte abreißen. Die Inflationsraten in den USA und der Eurozone sind wider Erwarten auf neue Höchststände geklettert und das Verbrauchervertrauen auf Werte gefallen, die selbst zur Finanzkrise 2008 nicht erreicht wurden. Auch die Unternehmensstimmung hat zuletzt deutliche Risse gezeigt.
 
Bekanntlich aber ist die Nacht kurz vor dem Morgengrauen am dunkelsten. Es gibt erste Anzeichen für baldige Entspannung an der Inflationsfront. Die Preise vieler Rohstoffe sind in Erwartung einer kommenden Rezession zuletzt heftig eingebrochen. Mit dem Ende vieler Coronarestriktionen in China entspannen sich die Lieferketten. Es ist sichtbar, dass die Frachtraten zurückgehen, die Güterpreise in der westlichen Welt weniger stark steigen und die Halbleiterknappheit nicht mehr so drängend ist. Das Lohnwachstum, das letztlich für die Stetigkeit einer Inflation ausschlaggebend ist, ist bei weitem noch nicht so hoch, um eine Inflation von 8 bis 9 Prozent bei nun anziehender Produktivität zu einem dauerhaften Trend zu formen. Auch hier wirken die Ängste vor einem wirtschaftlichen Abschwung dämpfend.

Inflation wird sich bei 2 - 4 Prozent einpendeln

Wir gehen nach wie vor davon aus, dass sich die Inflation in der Größenordnung von 2 bis 4 Prozent einpendeln wird und damit höher als die Ziele der Zentralbanken und die Norm des letzten Vierteljahrhunderts, aber deutlich niedriger als heute. Gleiches signalisiert der Anleihemarkt. Der jüngste Ausverkauf wurde nicht durch einen neuen Anstieg der Inflationserwartungen, sondern durch ein kollektives Umdenken über das Ausmaß der geldpolitischen Normalisierung ausgelöst. Sprich: Die erwarteten Realzinsen sind gestiegen, was für die meisten Kapitalanlagen schlecht ist. Nichtsdestotrotz zeigen vergangene Zinszyklen und Rezessionen, dass der Schaden weder groß noch dauerhaft sein muss. Das gilt umso eher, als es einen gravierenden Unterschied zur jüngeren Vergangenheit gibt: die Realzinsen notieren nach wie vor tief im negativen Terrain.

Die Wirtschaft läuft besser als die Aktienmärkte

In der Tat ist die wirtschaftliche Situation nicht so schlecht wie es die Aktienmärkte signalisieren. Die Konsumenten sitzen nach wie vor auf einem großen Berg erzwungener Ersparnisse aus Coronazeiten. Viele Unternehmen haben sich effizienter aufgestellt, verfügen über eine solide Preissetzungsmacht, investieren verstärkt und freuen sich über rekordnahe Gewinnmargen. Da die Zinssätze weit hinter der Inflation zurückgeblieben sind, ist die (reale) Schuldenlast gesunken und bietet den Staaten Spielraum für fiskalpolitische Gegenmaßnahmen. Chinas Administration steuert bereits mit mächtigen Infrastrukturprogrammen und geldpolitischen Maßnahmen massiv gegen den Abschwung. Die positiven Wirkungen sollten sich ab Spätherbst in der Realwirtschaft zeigen. Die Notenbanker werden noch einige Zeit an ihrem Kurs festhalten und die Leitzinsen weiter erhöhen, um nicht den letzten Rest an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Erst ab dem kommenden Frühjahr erwarten die Marktteilnehmer wieder Zinssenkungen. Mit schlechteren Wirtschaftsdaten, nachlassender Inflation und angesichts der US-Kongresswahlen im November erwarten wir aber eine „verbale“ Zinswende der US-Notenbank schon im Frühherbst.

Einstieg im Frühherbst?

Spätestens dann sollten Investoren wieder massiv in den Markt einsteigen. Viele gut gemanagte Qualitätsunternehmen mit starken Bilanzen, einem langfristig stabilen Geschäftsmodell, hohem strukturellen Wachstum, Innovationskraft und technologisch führenden Produkten gibt es inzwischen sehr günstig. Wenn sich die Inflation wie von uns erwartet auf moderatere Niveaus einpendelt, werden viele sichere Unternehmensanleihen attraktiv sein und positive Realrenditen bieten. Wir wissen nicht, wie weit die Zinssätze jetzt steigen müssen, um ein glaubwürdiges Niveau für künftige langfristige Realzinsen festzulegen oder wie lange die Aktienmärkte ihren „fairen Wert“ unterschreiten. Auch sind viele geopolitische Risiken und ihre Folgen wie der Ukrainekrieg schwer einzuschätzen. Einen exakten Zeitpunkt für die Wende an den Kapitalmärkten zu prognostizieren ist daher nicht möglich. Die fundamentalen Grundlagen lassen uns aber zuversichtlich und optimistisch auf das zweite Halbjahr blicken.
Adrian Roestel ist Leiter Portfoliomanagement bei Huber, Reuss & Kollegen Vermögensverwaltung