Indien: Digital, selbstbewusst – und auch an der Börse erfolgreich

Noel Pick, HRK LUNIS
Von Noel Pick / Bild: HRK LUNIS
Wer in die Zukunft blickt und sehen möchte, welche Länder künftig eine immer wichtigere Rolle spielen werden, kommt an Indien nicht vorbei. Im April dieses Jahres löste Indien mit 1,43 Milliarden Bewohnern China als bevölkerungsreichste Land der Welt ab. Im Vergleich zu China, Japan, und Europa hat Indien die jüngste Bevölkerung und laut den Vereinten Nationen wird es 2050 das Land sein mit dem höchsten Bevölkerungsanteil im erwerbsfähigen Alter. Vor zehn Jahren war Indien die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, heute steht das Land an Nummer fünf. Auch geopolitisch gewinnt der asiatische Subkontinent immer mehr an Bedeutung. Wegen den Spannungen mit China und Russland hat die westliche Welt Indien als neuen Hoffnungsträger entdeckt und steckt viel Energie in die bilateralen Beziehungen. So war Premierminister Modi erst im Mai in Australien und im Juni in Washington, um für mehr Investitionen zu werben. Deutschlands Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bereiste Indien, um die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen voranzutreiben. Die Frage ist, ob die Pläne und Erwartungen der westlichen Länder mit den Realitäten in Indien umsetzbar sind und welche Hürden überwunden werden müssen.

Digitalisierungsschub führte aus der Armut

Was hierzulande kaum bekannt ist, ist der enorme Digitalisierungsschub, den sich Indien in den vergangenen Jahrzehenten selbst auferlegt und dadurch ein außergewöhnliches Wachstum erzeugt hat. Noch Ende der 90er Jahre war Indien ein extrem armes Land, in dem 77 Prozent der Bevölkerung von weniger als 50 Cent pro Tag leben mussten. Nur zwei Prozent der Bürger haben Einkommensteuer bezahlt, 40 Prozent aller Geburten sind nicht registriert worden. Anfang der 2000er-Jahre realisierte der damalige Ministerpräsident Manmohan Singh, dass eine umfassende Digitalisierung eine einmalige Chance bieten könnte, das Land zu modernisieren und die Bevölkerung aus der Armut zu bringen. Nach Jahren der Vorbereitung wurde 2009 mit Hilfe der Firma Infosys die „Unique Identification Authority of India“ (UIDA) gegründet, die wiederum das Aadhaar-Programm ins Leben gerufen hat, eine riesige Datenbank, in der inzwischen fast jeder Inder mit Fingerabdruck und Iris-Scan registriert ist. Bis Ende 2022 haben via Aadhaar 99 Prozent aller Inder eine ID-Nummer erhalten. Diese Nummer benötigt jede Bürgerin und jeder Bürger, um staatliche Renten zu beziehen, Lebensmittelrationen zu bekommen, zu heiraten, ein Bankkonto zu eröffnen oder ein Mobiltelefonvertrag zu beantragen. Aadhaar ist die größte biometrische Datenbank der Welt.

Weltweit führend bei digitalen Bezahlvorgängen

Zudem hat die indische Regierung 2016 alte 500- und 1000-Rubi-Noten eingezogen und durch neue Scheine ersetzt, um den Schwarzgeldmarkt auszutrocknen. Im gleichen Jahr führte die Indische Zentralbank einen Standard für die Digitalisierung von Massenzahlungen ein (UPI-System), wodurch Indien inzwischen weltweit führend ist in der Anzahl digitaler Bezahlvorgänge. Um den Handel im Land zu vereinfachen, wurde der steuerliche Flickenteppich in den verschiedenen Bundesländern aufgelöst und am 1. Juli 2017 eine landesweit einheitliche Umsatzsteuer (Goods and Services Tax) eingeführt (im Schnitt 18 Prozent). Steuern werden online abgeführt und die Daten online abgeglichen.

Die Wirtschaft ist im Vormarsch

Alle diese Maßnahmen haben die Korruption in Indien eingedämmt und mehr als 400 Millionen Inder ermöglicht, der Armut zu entkommen. Der ursprünglichen Digital India Act wird erneuert und soll noch dieses Jahr als Gesetzentwurf im Parlament eingebracht werden. Auch die Wirtschaft ist im Vormarsch. Der massive Einbruch des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2020 von minus zehn Prozent, verursacht durch die Coronapandemie, wurde mit einem Wachstum von 8,8 und 8,0 Prozent in den Jahren 2021 und 2022 mehr als ausgeglichen.

Weltmacht Indien?

So bemerkenswert diese Entwicklungen sind, so groß sind die Herausforderungen. Genau wie Xi Jinping in China hat der jetzige Ministerpräsident von Indien, Narendra Modi, den Traum, Indien als eigenständige wirtschaftlich Weltmacht zu positionieren. Modi ist aber ein Hindu-Nationalist. Schritt für Schritt versucht er, Andersdenkende und Minderheiten, hauptsächlich Christen und Muslime, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, in ihre Grenzen zu weisen. Sie sollen sich den Regeln der Mehrheit anpassen. Unter seinen Anhängern hat Modi zig Millionen von Dollar für seinen Wahlkampf im nächsten Jahr mobilisiert. Der autoritären Züge von Modis BJP-Partei führen zu einer Polarisierung in der indischen Gesellschaft und zunehmenden gewaltsamen Ausschreitungen.

Wirtschaftliche Herausforderungen

Neben diesen politischen Problemen bestehen auch auf wirtschaftlicher Seite noch erhebliche Herausforderungen. Trotz der enormen Fortschritte lebt noch immer ein Drittel der Bevölkerung in Armut, 45 Prozent der Bevölkerung ernährt sich von der Landwirtschaft. Indien hat immer noch kein Freihandelsabkommen mit der EU und verlangt Zölle auf importierte Waren aus Europa. Bürokratie und Korruption sind nach wie vor ein riesiges Problem und bremsen die Investitionsfreudigkeit internationaler Konzerne. Deren Investitionen sind 2022 das erste Mal seit Jahrzehnten um 16 Prozent gefallen. Indien leidet zudem übermäßig vom Klimawandel und der Luftverschmutzung, was die Wirtschaft bremst und zu Knappheiten bei Lebensmittel führt. Durch eine zunächst starke Hitzewelle in diesem Jahr, gefolgt von Überschwemmung, leidet beispielsweise die Tomatenernte. Die Preise für Tomaten haben sich deshalb vervierfacht.

Ein Gegenpol zu China und Russland

Zusammengefasst lässt sich sagen: Mit hoher Sicherheit wird Indiens Bedeutung in einer multipolaren Welt zunehmen. Das bevölkerungsreichste Land der Welt ist keine Nation, die davon träumt, Inseln oder Gebiete zu annektieren oder Europa oder die USA vom Thron zu stoßen. Indien agiert pragmatisch, sucht Partner, keine Freunde. Gerade deshalb ist es, als Gegenpol zu den Großmachtbestrebungen von China und Russland, ein immer wichtigerer Akteur auf der Weltbühne.
 
Unter diesen Gesichtspunkten sollten Anleger den BSE Sensex im Blick behalten, den bekanntesten und wichtigsten Aktienindex an der Bombay Stock Exchange in Indien. Er bildet die Wertentwicklung der 30 größten Unternehmen ab, die an der Börse in Mumbai gehandelt werden, und zeigt eine beeindruckende Performance. So hat der Sensex in den vergangenen drei Jahren gegenüber dem DAX und auch dem S&P 500-Index deutlich besser abgeschnitten – sowohl in lokaler Währung als auch umgerechnet auf Euro-Ebene. Auch auf zehn Jahre gesehen liegt der Sensex klar vorne. Und es spricht viel dafür, dass Indiens Börse auch in den kommenden zehn Jahren überdurchschnittlich gute Renditen erzielen wird.
Noel Pick ist Senior Client Portfoliomanager bei HRK LUNIS

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