Shaan Raithatha, Vanguard

Überwiegt das Wachstum die Schuldentragfähigkeit?

Die Aktienmärkte haben im Spätsommer klare Signale gesetzt: Während Anlegerinnen und Anleger in den USA dank sprunghaft steigender Unternehmensgewinne und Hoffnungen auf Zinssenkungen wieder optimistischer wurden, bleibt Europa hinter den Erwartungen zurück. Sinkende Gewinnprognosen und politische Unsicherheiten trüben hier das Bild – und stellen Investoren vor neue Fragen – etwa, inwiefern das erwartete Wachstum die höhere Schuldenlast ausgleichen kann?

Shaan Raithatha, Vanguard

Anders als in Europa haben Anlegerinnen und Anleger in den USA zuletzt deutlich ihre Zuversicht zum Ausdruck gebracht – US-Aktien konnten die diesjährige Renditelücke zum europäischen Aktienmarkt dank steigender Unternehmensgewinne schließen. Gleichzeitig sind die langfristigen US-Kreditkosten trotz der anhaltend schwierigen Haushaltslage gesunken, zumal die Märkte auf eine Zinssenkung hoffen.

Nasdaq führt das Feld an

Aktien aus dem Rest der Welt hatten sich seit Jahresbeginn deutlich besser entwickelt als der technologielastige US-Aktienmarkt. In den letzten Monaten konnten US-Aktien jedoch aufholen, wenn man die Abwertung des US-Dollars mit einbezieht. Ein Großteil der Kursgewinne von US-Aktien fiel in den Zeitraum nach dem April, als die Sorgen um US-Zölle ihren Höhepunkt erreichten. Die Marktentwicklung folgt einem inzwischen bekannten Muster: Der technologie- und KI-lastige Nasdaq Composite Index hängte den S&P 500 Index ab, der wiederum den „Old Economy“-geprägten Dow Jones Industrial Average übertreffen konnte. Mit den steigenden Kursen reagierten die Märkte auf unerwartet deutlich steigende Gewinne, wobei Technologie- und KI-Unternehmen auch ihre Gewinnmargen weiter ausbauen konnten.

US-Arbeitsmarkt schwächelt – Fed reagiert mit vorsichtigen Zinssenkungen

Der US-Arbeitsmarkt kühlt ab: Die Zahl neu geschaffener Stellen ist stark zurückgegangen, die Arbeitslosenquote dürfte bis Jahresende auf 4,5 Prozent steigen. Gleichzeitig belasten Demografie und geringere Zuwanderung das Arbeitskräfteangebot. Vor diesem Hintergrund hat die Fed am 17. September den Leitzins um 25 Basispunkte auf 4,0–4,25 Prozent gesenkt, bleibt aber vorsichtig und datenabhängig. Das Wachstum verlangsamt sich auf rund 1,4 Prozent, die Kerninflation nähert sich 3,1 Prozent.

In Europa hingegen, das etwa 40 Prozent des restlichen globalen Aktienmarktes ohne die USA ausmacht, scheinen die Unternehmensgewinne in diesem Jahr zu sinken. In Anbetracht der Tatsache, dass die Märkte zu Jahresbeginn mit einem Gewinnwachstum von acht Prozent rechneten, enttäuscht dieser Trend. Er bedeutet außerdem, dass ein Großteil der immer noch beeindruckenden Rendite europäischer Aktien in diesem Jahr eher auf steigende Bewertungsmultiplikatoren als auf organisches Profitabilitätswachstum zurückzuführen ist. Bis zum 15. September haben europäische Aktien, gemessen am Euro Stoxx 50 Index, eine Rendite von 11 Prozent in Landeswährung und 26,5 Prozent in US-Dollar abgeworfen, der S&P 500 Index kommt dagegen nur auf 12,5 Prozent.

Euroraum: Deutsches Konjunkturpaket könnte ab 2026 als Stütze wirken 

Die Angleichung der europäischen und US-amerikanischen Aktienrenditen wirft einige wichtige Fragen für die globalen Aktienmärkte außerhalb der USA auf. Zum Beispiel: Inwiefern die höheren Gewinnwachstumsprognosen für das kommende Jahr – unter anderem dank erwarteter staatlicher Ausgabenerhöhungen – bereits eingepreist sind. Und inwiefern sich ein solches Ertragswachstum vor dem Hintergrund des schwachen Wirtschaftswachstums und der Sorge um die Schuldentragfähigkeit überhaupt einstellen wird. Oder auch, ob diese potenziellen Impulsgeber einen weiteren Anstieg der Bewertungsmultiplikatoren möglich machen könnten.

Die Konjunktur im Euroraum bleibt gedämpft: Nach 0,6 Prozent Wachstum im ersten Quartal legte das BIP im zweiten Quartal nur noch um 0,1 Prozent zu. Belastend wirken die schwache Weltkonjunktur, politische Unsicherheit und steigende Zölle – nach dem neuen EU-US-Handelsabkommen dürfte der effektive Zollsatz auf 15 bis 17 Prozent steigen. Ab 2026 könnten höhere Verteidigungsausgaben und deutsche Konjunkturpakete wieder stützen. 

Shaan Raithatha

Shaan Raithatha, CFA, ist Senior Economist in der Investment Strategy Group von Vanguard und konzentriert sich auf makroökonomische, finanzmarkt- und klimabezogene Forschung in Europa. Bevor er zu Vanguard kam, arbeitete Shaan als globaler Wirtschaftswissenschaftler und Anlagestratege bei HSBC Global Asset Management. Shaan hat einen M.A. in Wirtschaftswissenschaften von der University of Cambridge und einen M.Sc. in Finanzen von der London Business School. Er ist ein CFA-Charterholder.