Shaan Raithatha, Vanguard

Künstliche Intelligenz, echte Risiken

Wirtschaftlicher Rückenwind, aber zunehmender Gegenwind von den Börsen: Das datenbasierte Megatrend-Modell von Vanguard legt nahe, dass sich das Wirtschaftswachstum in den kommenden Monaten deutlich von den gängigen Konsensprognosen entfernen wird. Inwiefern Investitionen in KI negative Schocks ausgleichen können – und warum der Technologie-Trend gleichzeitig zu dem zentralen Risikofaktor für 2026 wird, erklären wir in unserem Marktkommentar.

Shaan Raithatha, Vanguard

Überschwängliche Finanzmärkte

Die Finanzmärkte zeigen sich geradezu überschwänglich – dafür gibt es durchaus gute Gründe. Trotz des Gegenwinds durch Megatrends wie demografische Abschwächungen und steigenden Zöllen im Jahr 2025 haben sich die Volkswirtschaften behauptet. Das Wachstum der Unternehmensgewinne in den USA sowie die wirtschaftlichen Fundamentaldaten blieben robust – angetrieben durch Investitionen in künstliche Intelligenz und andere positive Technologieschocks.

Unser datenbasiertes Megatrend-Modell bei Vanguard legt nahe, dass sich diese angebotsseitigen Kräfte 2026 erneut verschieben dürften. Wie gut Investitionen in KI negative Schocks ausgleichen können, wird zu einer der zentralen Fragen für die wirtschaftliche Entwicklung. In den kommenden fünf Jahren sehen unsere Modelle eine 80 prozentige Wahrscheinlichkeit, dass sich das Wirtschaftswachstum von den gängigen Konsensprognosen entfernt. Diese Projektionen fließen in unseren Investmentausblick ein – und legen Anlagechancen offen, die teilweise unkonventionell sind, aber in zunehmend überhitzten Märkten besonders überzeugend wirken.

Höheres Wachstum am Horizont – insbesondere in den USA

Zu erwarten ist etwa, dass sich KI unter den Megatrends besonders hervorheben wird – aufgrund ihres Potenzials, Arbeitsmärkte zu verändern und die Produktivität zu steigern. Gleichzeitig entwickelt sich der überproportionale Beitrag von KI-Investitionen zum Wirtschaftswachstum zu einem zentralen Risikofaktor für 2026. Die anhaltende Welle KI-getriebener physischer Investitionen dürfte ein mächtiger Impuls bleiben – vergleichbar mit früheren Phasen großer Kapazitätserweiterungen wie dem Eisenbahnausbau im 19. Jahrhundert oder dem IT- und Telekommunikationsboom der späten 1990er. Unsere Analyse deutet darauf hin, dass dieser Investitionszyklus noch nicht abgeschlossen ist. Dies stützt unsere Prognose, dass die US-Wirtschaft in den kommenden Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 60 Prozent ein reales BIP-Wachstum von drei Prozent erreichen könnte – deutlich über den meisten Prognosen von Analysten und Zentralbanken.

Für 2026 rechnen wir in den USA zunächst mit einer moderaten Beschleunigung auf rund 2,25 Prozent, gestützt durch KI-Investitionen und fiskalische Impulse aus dem „One Big Beautiful Bill Act“. Die erste Jahreshälfte dürfte verhaltener ausfallen – bedingt durch die verzögerten Effekte stagflationärer Megatrends wie Zöllen und Demografie sowie noch ausstehende breit angelegte Produktivitätsgewinne. Die Arbeitsmärkte, die 2025 deutlich abgekühlt sind, sollten sich bis Ende 2026 stabilisieren, sodass die Arbeitslosenquote unter 4,5 Prozent bleibt.

Hartnäckige Inflation verringert Spielraum der Fed 

Gleichzeitig erwarten wir, dass das Wirtschaftswachstum die US-Inflation hartnäckig über zwei Prozent hält – auch zum Jahresende 2026. Diese Kombination aus solidem Wachstum und anhaltendem Preisdruck spricht dafür, dass die Federal Reserve nur begrenzten Spielraum für Zinssenkungen unter unser neutrales Zinsniveau von 3,5 Prozent haben wird. Unsere Erwartung für die Geldpolitik der Fed ist damit etwas restriktiver als die aktuellen Erwartungen der Anleihemärkte.

Auch für China rechnen wir für 2026 aufgrund ähnlicher KI-Dynamiken mit einem über dem Konsens liegenden Wachstum. Trotz externer und struktureller Herausforderungen erscheint ein reales BIP-Wachstum näher bei fünf als bei vier Prozent. Im Euroraum hingegen fällt unsere Risikoeinschätzung konsensorientierter aus, da starke KI-Impulse fehlen. Wir erwarten für 2026 ein Wachstum von rund ein Prozent. Die Belastung aufgrund höherer US-Zölle und der Anstieg der Verteidigungs- und Infrastrukturinvestitionen wirken dabei entgegengesetzt. Die Inflation dürfte nahe dem Zwei-Prozent-Ziel bleiben, sodass die Europäische Zentralbank ihre aktuelle geldpolitische Ausrichtung beibehalten kann.

Risiken bei US-Technologieaktien nehmen zu

Je nach Markt, Anlageklasse und Zeithorizont unterscheidet sich unser Kapitalmarktausblick deutlich. Insgesamt bleiben wir für mittel- bis langfristige Multi-Asset-Portfolios konstruktiv eingestellt; positive Realrenditen erscheinen weiterhin wahrscheinlich. Gleichzeitig dürften US-Technologieaktien 2026 ihre Dynamik angesichts hoher Investitionsraten und erwarteter Gewinnzuwächse fortsetzen. Dennoch muss klar betont werden: Die Risiken in diesem Sektor nehmen zu – selbst wenn die derzeitige Euphorie in Teilen „rational“ wirkt. Gleichzeitig ergeben sich an anderer Stelle zunehmend attraktivere Anlagechancen, selbst für Anleger, die besonders optimistisch in Bezug auf KI sind. Unsere Überzeugung hierin wächst weiter und spiegelt Muster früherer Technologiezyklen wider.

Auf Basis unserer Prognose ergibt sich bei den Risiko-Rendite-Profilen über die kommenden fünf bis zehn Jahre folgende Reihenfolge: 

  1. Hochwertigen US-Anleihen
  2. US-Value-Aktien
  3. Aktien entwickelter Märkte außerhalb der USA

Hochwertige Anleihen werden angesichts höherer neutraler Zinssätze auch in Zukunft attraktive Realrenditen bieten. Die Renditen dürften im Durchschnitt nahe dem aktuellen laufenden Ertrag liegen und damit einen komfortablen Abstand zur erwarteten Inflation bieten. Das ist der Hauptgrund, warum Anleihen „zurück sind“ – unabhängig davon, was Zentralbanken 2026 tun. Zudem dürften US-Anleihen auch in dem Fall Diversifikation bieten, dass KI tatsächlich enttäuscht und das Wachstum niedriger ausfällt – ein Szenario, von dem wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 bis 30 Prozent ausgehen. 

Steigende Volatilität bei US-Growth-Titeln absehbar

Am vorsichtigsten bleiben wir bei US-Growth-Aktien, die in den vergangenen Jahren bemerkenswert stark outperformt haben. Unsere verhaltenen Renditeerwartungen für den Technologiesektor sind jedoch vollkommen vereinbar mit unserem positiven Ausblick auf ein KI-getriebenes Wachstumsumfeld in den USA. Die hohen Erwartungen an US-Technologieaktien dürften aus zwei Gründen kaum erfüllbar sein: Erstens liegen die Gewinnprognosen bereits sehr hoch, und zweitens wird die kreative Zerstörung neuer Wettbewerber häufig unterschätzt, die die Gesamtprofitabilität eines Sektors verwässert. Die Volatilität in diesem Segment – und damit am US-Aktienmarkt insgesamt – dürfte deutlich steigen. Tatsächlich wird unsere gedämpfte Aktienprognose von vier bis fünf Prozent durchschnittlicher Jahresrenditen über die nächsten fünf bis zehn Jahre weitgehend durch die Risiko-Rendite-Einschätzung großer Technologieunternehmen bestimmt.

Die Geschichte der Technologiezyklen zeigt zudem: Es gibt oft gegenintuitive, aber zunehmend überzeugende Anlagechancen – unabhängig davon, ob KI sich letztlich als transformativ erweist oder nicht. US-Value-Aktien und entwickelte Märkte außerhalb der USA dürften langfristig am stärksten profitieren, wenn sich die Wachstumsimpulse durch KI allmählich auf die Anwender von KI-Technologie ausweiten. Wirtschaftliche Transformationen gehen häufig mit solchen Verschiebungen an den Aktienmärkten über den gesamten Technologiezyklus hinweg einher. Insgesamt bieten die drei genannten Anlagesegmente sowohl offensive als auch defensive Qualitäten. Diese Einschätzung gilt unabhängig davon, ob die derzeitige KI-Euphorie sich letztlich als berechtigt erweist – oder nicht. 

Shaan Raithatha

Shaan Raithatha, CFA, ist Senior Economist in der Investment Strategy Group von Vanguard und konzentriert sich auf makroökonomische, finanzmarkt- und klimabezogene Forschung in Europa. Bevor er zu Vanguard kam, arbeitete Shaan als globaler Wirtschaftswissenschaftler und Anlagestratege bei HSBC Global Asset Management. Shaan hat einen M.A. in Wirtschaftswissenschaften von der University of Cambridge und einen M.Sc. in Finanzen von der London Business School. Er ist ein CFA-Charterholder.

Disclaimer

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