Bruno Paulson, Morgan Stanley Investment Management

Das Tauziehen am Markt

Die globalen Aktienmärkte verzeichneten zuletzt eine starke Entwicklung. Die hohen Bewertungen und Erwartungen der Anleger an Künstliche Intelligenz (KI) bergen jedoch Risiken. Was unterscheidet den KI-Trend von der Dotcom-Blase – und warum greift ein pauschaler Blick zu kurz.

Bruno Paulson, Morgan Stanley Investment Management

Der Aufwärtstrend an den Kapitalmärkten setzte sich im dritten Quartal fort: Die globalen Aktienmärkte verzeichneten eine Rendite von 7 Prozent. Damit stieg die Performance des globalen MSCI World Index seit Jahresbeginn trotz zahlreicher verbleibender politischer und geopolitischer Unsicherheiten auf beeindruckende 17 Prozent.

Der MSCI World Index weist derzeit ein Forward-KGV von 20 auf, beim US-Index S&P 500 liegt es bei 23. Diese erweiterten Bewertungskennzahlen beziehen sich auf künftige Gewinne. Diese sollen aufgrund von Margen, die ausgehend von Rekordhochs weiter steigen, in den nächsten zwei Jahren im zweistelligen Bereich wachsen. Wenn wir die historisch hohen Bewertungen betrachten, setzen die Marktteilnehmer auf eine Fortsetzung des kräftigen Booms Künstlicher Intelligenz (KI). Der makroökonomische Hintergrund ist ihrer Einschätzung nach stark genug, um das zweistellige Gewinnwachstum zu ermöglichen und es herrscht Zuversicht, dass geldpolitische Lockerungen und KI-bedingte Produktivitätssteigerungen die Margen weiterhin positiv beeinflussen werden. Kurz gesagt: Die Erwartungen sind hoch. Der Goldpreis aber erinnert uns daran, dass Unsicherheiten bestehen bleiben.

Diese sechsmonatige zyklische Wachstumsrally führt zu einer beispiellosen Underperformance von Qualitätsaktien gegenüber dem breiteren Index, wie die Performance des S&P 500 Quality Index gegenüber dem S&P 500 Index zeigt. Eine im Vergleich derartig schwache Entwicklung von Qualitätswerten konnten wir bislang nur im Vorfeld der geplatzten Dotcom-Blase beobachten. In der Vergangenheit folgte auf Zeiträume, in denen sich Qualitätswerte deutlich
unterdurchschnittlich entwickelten, häufig eine längere Periode der deutlichen Outperformance solcher Papiere gegenüber dem breiteren Markt.

Bullen gegen Bären – das Tauziehen am Markt

Wir sehen ein Tauziehen an den Märkten. Auf der einen Seite steht das Bullenargument, dass KI kurzfristig die Rentabilität der Unternehmen spürbar verändern wird und beziehungsweise oder die US-Wirtschaft stark beschleunigt. Das Bärenargument auf der anderen Seite ist wiederum, dass diese hohen Erwartungen nicht erfüllt werden. Das pessimistische Szenario könnte darauf zurückzuführen sein, dass die skalierte Einführung generativer KI in den Unternehmen länger dauert als erwartet, was zu Angst bezüglich der Rendite der massiven Investitionen der Hyperscaler führt. Es könnte aber auch in der Befürchtung begründet liegen, dass das makroökonomische Umfeld nicht stark genug ist, um ein zweistelliges Gewinnwachstum zu ermöglichen. Unser erfahrenes Team ist sich bewusst, wie schmerzhaft es sein kann, wenn erhöhte Erwartungen nicht erfüllt werden.

Unter Berücksichtigung der Daten der letzten 150 Jahre scheint sich der Markt in seiner vierten New-Tech-Ära mit einer damit verbundenen extremen Bewertung und einem S&P 500 CAPE – dabei handelt es sich um ein zyklisch angepasstes Kurs-Gewinn-Verhältnis – von mehr als zwei Standardabweichungen über dem Trend zu befinden. Vergleiche mit den drei früheren Episoden extremer Bewertungen in den 1900er-Jahren, den 1920er-Jahren und zuletzt der Dotcom-Blase, unterstreichen das Risiko erheblicher allgemeiner Marktrückgänge, wenn sich die Anlegerstimmung ändert (Verluste von 15 Prozent bis 50 Prozent). Die exponiertesten Bereiche leiden auf dem Weg nach unten stärker, während die unterschätzten Segmente zulegen – wie Basiskonsumgüter im Dotcom-Crash und möglicherweise jetzt die vermeintlichen „KI-Opfer“ wie die Softwarebranche oder Unternehmen im datenreichen Finanz- und Industriesektor.

Unterschiede zur Dotcom-Blase: Echte Gewinne, weniger Fremdfinanzierung

Während es Ähnlichkeiten mit dem Überschwang während der NewTech-Internet-Ära gibt, sehen wir heute aber bemerkenswerte Unterschiede: Die Unternehmen im Zentrum des Booms verdienen echtes Geld und ihre Gewinndynamik bleibt stark. Ihre aktuellen Kurs-Gewinn-Verhältnisse sind – obwohl hoch – im Vergleich zu 1999 keineswegs extrem. Ein weiterer entscheidender Unterschied besteht darin, dass die massiven Kapitalausgaben der Hyperscaler von heute größtenteils aus dem operativen Cashflow finanziert werden, was kontinuierliche und sogar zusätzliche Investitionen mit begrenzter Abhängigkeit von externen Finanzierungen ermöglicht.

Die Unsicherheit bleibt jedoch bestehen. Im Kern des Booms generativer KI befindet sich derzeit ein Paradoxon: Die Technologie hat ein beispielloses Interesse auf den Führungsebenen ausgelöst. Ihr Potenzial ist jedem klar, der sie verwendet. Das Ausmaß der Adoption und die von ihr ausgehende Wertschöpfung sind bislang jedoch sehr begrenzt. Dies könnte einen klassischen Gartner-Hype-Zyklus auslösen und sich die Periode der ‚überhöhten Erwartungen‘ hin zum ‚Tal der Enttäuschung‘ wandeln, da sich die Umsetzung als schwierig erweist – auch wenn generative KI letztendlich erfolgreich und transformativ ist.

Darüber hinaus ist die makroökonomische Lage unklar. Das liegt nicht zuletzt an den bislang unbekannten Auswirkungen der Zölle und der geopolitischen Risiken weltweit. Das Wachstum ist zwar positiv, der makroökonomische Ausblick bleibt jedoch moderat. Das Konjunkturplus dürfte in den USA sowohl 2025 als auch 2026 bei 1,5 Prozent bis 2 Prozent und außerhalb Nordamerikas näher an 1 Prozent liegen.

Während des jüngsten Quartals beschäftigten sich die Marktteilnehmer zunehmend mit der Frage, ob KI insbesondere datenzentrierte Unternehmen grundlegend verändern wird. Die erste Reaktion war breit angelegt: Anleger bestraften nahezu alle Unternehmen, die aus ihrer Sicht von Daten abhängig sind – unabhängig von den unterschiedlichen Geschäftsmodellen, der Wettbewerbspositionierung oder ihrer Anpassungsfähigkeit. Wir denken, dass dieser pauschale Ansatz falsch ist, da er wichtige Unterschiede zwischen den Branchen und Unternehmen ignoriert. Wir untersuchen sowohl die potenzielle Anfälligkeit für KI-Disruptionen als auch die Umsatz- und Kostenchancen sorgfältig von Fall zu Fall.

Chancen in der pauschalen Abstrafung

Da die Debatte reift und bis der Markt eine klarere Vorstellung davon entwickelt, welche Unternehmen wirklich anfällig für Disruption sind und welche KI als Wettbewerbsvorteil nutzen können, gehen wir davon aus, dass es im gesamten Sektor zu einer beträchtlichen Renditestreuung kommen wird. Derweil sehen wir den pauschalen Ansatz der Marktteilnehmer als Gelegenheit, einige unserer Beteiligungen selektiv aufzustocken – nämlich hochwertige Unternehmen, die mit den wirklich von KI-bedrohten Unternehmen zu Unrecht über einen Kamm geschert werden.

In einem Markt, in dem die ‚Gewissheit‘ der Anleger auf eine sehr unsichere Realität trifft und die Bewertungen ausgereizt sind, konzentrieren wir uns nach wie vor auf Unternehmen, die unseres Erachtens ein verlässliches Gewinnwachstum bieten – angetrieben durch ein starkes Umsatzwachstum, das aus unserer Sicht eine zuverlässigere Quelle für langfristige Kapitalvermehrung ist als eine erwartete Margenverbesserung.

Bruno Paulson

Bruno Paulson ist Portfoliomanager im International Equity Team bei bei Morgan Stanley Investment Management. Morgan Stanley Investment Management beschäftigt zusammen mit den mit ihr verbundenen Anlageberatungsunternehmen weltweit mehr als 1400 Anlageexperten und verwaltet oder betreut Vermögenswerte in Höhe von USD 1,7 Billionen (Stand: 31. Dezember 2024).