Demografischer Wandel: Wachstumsbremse und Deflationstreiber?

Dr. Klaus Bauknecht, IKB Deutsche Industriebank AG
Dr. Klaus Bauknecht, IKB Deutsche Industriebank AG
Fazit: Der Alterungsprozess der deutschen Bevölkerung wird in den kommenden Jahren voranschreiten und die wirtschaftliche Entwicklung auf breiter Front beeinflussen: negativ betroffen davon sind die Wachstumstreiber Arbeit, Investitionen und Produktivität. Doch die Menschen werden nicht nur älter, sondern auch pflegebedürftiger, was eine Umverteilung von Ressourcen mit sich bringen wird.

Ob der demografische Wandel eher zu Inflation oder wie in Japan zu Deflation führt, ist allerdings weniger eindeutig. Um Deflation zu verhindern, ist eine ausreichend effektive Binnennachfrage und damit eine stabile Bevölkerungszahl notwendig. Deshalb bedarf es nicht nur wachstumsfördernder Produktivitätssteigerungen, erforderlich ist auch eine erfolgreiche Einwanderungspolitik. Eine höhere Sparquote wird die negativen Konsequenzen des demografischen Wandels hingegen nicht lösen können, da dadurch Wachstum, Investitionen und vor allem die Binnennachfrage belastet werden und sich so das Deflationsrisiko deutlich erhöht
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Schon seit vielen Jahren prognostiziert der Sachverständigenrat nur ein moderates mittelfristiges Wachstum für die deutsche Wirtschaft von etwa 1 Prozent. Der Grund für die geringe Dynamik wird vor allem im demografischen Wandel gesehen, insbesondere in der abnehmenden Anzahl von Erwerbstätigen bzw. Arbeitsstunden. Die Folge ist eine Globalisierung von Investitionen: Die Globalisierungsstrategie von Unternehmen fokussiert sich zunehmend auf die Verlagerung von Produktionskapazitäten und immer weniger auf den Handel. Damit versuchen die Unternehmen dem begrenzten deutschen Potenzialwachstum und steigenden Lohnkosten zu entgehen und globale Marktanteile zu behaupten. Der Produktionsstandort Deutschland wird als Folge ein immer spezialisierteres Glied in der globalen Wertschöpfungskette. Eine Rückführung von Produktionskapazitäten und -prozessen ins Inland, wie oftmals seit Beginn der Coronakrise mit dem Ziel einer größeren Unabhängigkeit gefordert wird, würde hingegen diese Spezialisierung zurückfahren, dadurch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verringern und das Potenzialwachstum belasten.

Doch was muss getan werden, um die Wertschöpfung am Standort Deutschland zu fördern bzw. um das Wachstum zu erhöhen? Die Komplexität liegt unter anderem darin, dass der demografische Wandel weitaus mehr Implikationen für Wachstum, Inflation und Gesellschaft hat – als nur eine sinkende Anzahl von verfügbaren Arbeitsstunden. Der demografische Wandel beeinflusst nicht nur die Wachstumstreiber Arbeit, Investitionen und Produktivität. Er führt grundsätzlich zu einer Neuordnung von Ressourcen, da sich die Bedürfnisse der Menschen verändern. Was sind die Handlungsoptionen?

Demografischer Wandel: Eine Wachstumsbremse auf breiter Front

Die Antwort auf ein sinkendes Potenzialwachstum bzw. geringere Arbeitsstunden wird im Allgemeinen in einer größeren Arbeitsproduktivität gesehen. Stehen weniger Arbeitsstunden zur Verfügung, müssen sie effizienter eingesetzt werden. Produktivitätssteigerungen können durch Investitionen, also mehr Kapital je Arbeitsplatz, sowie technologischen Fortschritt erreicht werden. Der Produktivitätsverlauf ist allerdings eher enttäuschend. Schon seit Jahren mahnen Volkswirte, dass ein sinkendes Produktivitätswachstum vor allem in den Industrieländern Grund für die strukturelle Wachstumsverlangsamung ist. In jüngerer Zeit kann als Erklärung hierfür die fehlende Innovations- und damit Investitionsbereitschaft angesichts hoher konjunktureller Unsicherheiten sein. Diese Zurückhaltung zeigt sich auch am Beispiel Digitalisierung bzw. bei den Fortschritten von Industrie 4.0. Umfragen dokumentieren, dass viele deutsche Unternehmen nur dann in den digitalen Fortschritt investieren, wenn daraus klar messbare, kurzfristige Vorteile resultieren. Angesichts drei wirtschaftlicher Krisen in 12 Jahren eine unternehmerisch durchaus nachvollziehbare Entscheidung.

Laut Bundesbank ist allerdings bereits vor der Finanzkrise eine Verlangsamung der Produktivität zu erkennen. Die Bundesbank argumentiert, das strukturell rückläufige Produktivitätswachstum sei auf fehlende unternehmerische Innovations- und Adaptionstätigkeit infolge des demografischen Wandels zurückzuführen. Ältere Unternehmer zeigen demnach also grundsätzlich eine niedrigere Innovations- und Risikobereitschaft bzw. Adaptionsfähigkeit im Hinblick auf neue Technologien. Somit belastet der demografische Wandel nicht nur Produktivitätswachstum, sondern auch Investitionen generell. Mit weniger Arbeitsstunden bzw. einem niedrigeren Wachstum sinkt zudem der grundsätzliche Bedarf an Investitionen. Empirische Analysen stützen daher die Einschätzung, dass der demografische Wandel neben Produktivität auch Investitionen negativ beeinflusst.

Welchen Einfluss hat eine alternde Belegschaft auf die Produktivität? Vielfach wird davon ausgegangen, dass die Produktivität bis zu einem Alter zwischen 30 und 45 Jahren steigt und danach sinkt. Die empirischen Ergebnisse sind jedoch nicht eindeutig und können sich zwischen Branchen deutlich unterscheiden. Während manche Studien auf eine fallende Produktivität mit zunehmendem Alter verweisen, deuten andere auf eine relativ stabile Entwicklung im Verlauf des Lebenszyklus hin. Die Bundesbank sieht hingegen sehr wohl eine sinkende Produktivität durch einen ansteigenden Anteil der älteren Bevölkerung bzw. eine Abnahme des mittleren und jüngeren Bevölkerungsanteils. Ein Grund für die sinkende Produktivität infolge des demografischen Wandels ist die Verschiebung wirtschaftlicher Aktivitäten von der Industrie zu Dienstleistungen, da Dienstleistungen bei einer alternden Bevölkerung an Bedeutung gewinnen.

Demografischer Wandel und Inflation: Mehr als nur alt werden

Die Literatur scheint sich einig: Der demografische Wandel wird das Wachstum auf verschiedene Weise belasten, während gleichzeitig der Bedarf an Ressourcen im Alter zunehmen sollte. Denn Menschen werden nicht nur älter, sondern auch bedürftiger. Ein immer größerer Anteil der Wirtschaftsleistung wird in der Dienstleistung für und Pflege von Senioren liegen – ein Bereich, in dem Produktivitätswachstum nur begrenzt möglich ist. Studien der WHO gehen davon aus, dass in den nächsten 30 Jahren nicht nur der Anteil der älteren Bevölkerung in Deutschland und anderen Industrieländern deutlich zulegen wird. Zudem wird der Anteil Demenzkranker und damit pflegebedürftiger Menschen ebenfalls spürbar zulegen. Einer alternden Gesellschaft steht also ein geringeres Angebot an Arbeitskräften zur Verfügung, was das Wachstum belastet. Hinzu kommt, diese Gruppe absorbiert zunehmend Arbeitsstunden anderer Menschen.
Das Wachstum verlangsamt sich, die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt. Wird dies zu Inflation führen? Im Gegensatz zum Einfluss des demografischen Wandels auf Wachstum findet die aktuelle Literatur keinen Konsens über seine Implikationen auf die Inflation. Eine höhere Zahl Pflegebedürftiger Personen deutet jedoch auf eine steigende Inflation hin, da die Angebotsseite nicht nur durch weniger Arbeitsstunden belastet wird, sondern auch durch zunehmende Forderungen dieser Altersgruppe hinsichtlich der Arbeitsgestaltung. Schrumpft die Bevölkerungsanzahl hingehen, oder steigt die Sparquote deutlich an, führt dies zu einem Nachfragerückgang, was dann deflationär wirken sollte. Auch ein produktivitätsgetriebenes Wachstum würde deflationär wirken, wenn die Nachfrage nicht ebenfalls anzieht. Denn bleibt der Nachfrageanstieg aus, führen Produktivitätsfortschritte zu mehr Arbeitslosigkeit und damit zu deflationären Kräften.

Ein Rückgang der Bevölkerungszahl in Kombination mit Produktivitätssteigerungen wirkt sich also klar deflationär aus. Japan ist hierfür ein Beispiel: Dort altert die Bevölkerung nicht nur, sie geht auch zurück. Gleichzeitig hat Japan seit Jahren ein relativ stabiles Produktivitätswachstum, sodass das pro-Kopf-Wachstum niedrig, aber immer noch positiv und stabil ist. Das Angebot in der Wirtschaft weitet sich aus, die Nachfrage schrumpft jedoch. Die Wirtschaft hat insgesamt keine ausreichende lokale Nachfrage, was sich – wie auch in Deutschland – im strukturellen Handelsbilanzüberschuss dokumentiert. Doch trotz des Überschusses, der die Nachfrageseite stützt, ergeben sich in Japan spürbare deflationäre Tendenzen. Die Bedeutung eines Bevölkerungsrückgangs ist demnach nicht zu unterschätzen. Außerdem hat eine starke bzw. relativ stabile japanische Währung aufgrund des Handelsbilanzüberschusses und der Zunahme des Auslandsvermögens, was zu einem anhaltenden Leistungsbilanzüberschuss führt, den deflationären Druck zusätzlich gefördert.

Was muss getan werden?

Ein größeres Wachstum durch Produktivitätssteigerungen und Investitionen wird zumeist als alleinige Lösung für die wirtschaftlichen Herausforderungen des demografischen Wandels angepriesen. Wirtschaftswachstum sorgt für mehr Wohlstand, um die höheren gesellschaftliche Kosten des demographischen Wandels zu tragen. Doch wie der anhaltende Handelsbilanzüberschuss zeigt, reicht die Nachfrage der deutschen Wirtschaft schon lange nicht mehr aus, um ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu schaffen – obwohl die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten den erwarteten Bevölkerungsrückgang bis dato verhindert hat. Sich nur auf angebotsseitiges Wachstum bzw. Produktivitätssteigerung zu fokussieren, würde die Ungleichheit weiter verschärfen und den Deflationsdruck erhöhen – vor allem wenn die Bevölkerungszahl tatsächlich nachgeben würde. Damit „japanische Verhältnisse“ vermieden werden, muss also die lokale Nachfrageseite der Wirtschaft ebenfalls gestützt werden. Ein steigender Anteil an bedürftigen und pflegeintensiven Menschen kann hier helfen.

Die deutsche Volkswirtschaft ist im globalen Kontext relativ klein, der globale Markt kann hiesiges Wirtschaftswachstum relativ problemlos absorbieren. So mag eine einseitige, angebotsfokussierte Wachstumsstrategie eher zu einem weiter sich aufblähenden Handelsbilanzüberschuss als zu Deflation führen. Doch die globale Wirtschaft als anhaltende Nachfragestütze zu sehen hat andere Tücken. So ist die deutsche Wirtschaft bereits heute in hohem Maße von globalen Konjunkturentwicklungen abhängig und ihr Handelsbilanzüberschuss ist ein Stein des Anstoßes bei vielen Handelspartnern. Langfristig wird Deutschland nicht umhinkommen, einen ausgeglicheneren Weg zu finden – vor allem wenn das Potenzialwachstum nachhaltig gesteigert werden soll. Deshalb ist eine effektive Einwanderungspolitik bzw. ein Bevölkerungswachstum notwendig, um Nachfrage zu sichern. Die Steuerung der Bevölkerungsentwicklung ist ein genauso wichtiger Teil der Wirtschaftspolitik wie Produktivitätsfortschritte auf der Angebotsseite.

Die Antwort auf die Folgen des demografischen Wandels liegt sicherlich auch nicht in einer höheren Sparquote. Sparen würde Investitionen bzw. Nachfrage und somit letztendlich das Wachstum belasten. Entscheidend ist, dass der Investitionsstandort Deutschland im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig bleibt, um ausreichend Investitionen im Inland zu sichern. Bis jetzt ist es eher umgekehrt: Die deutsche Sparquote ist relativ hoch und beschert der Wirtschaft einen deutlichen Handelsbilanzüberschuss, während die private Investitionsquote in den letzten Jahren eher gesunken ist. Dies hat Deutschland zu einem Exporteur von Kapital gemacht. Das hohe Auslandsvermögen mag zwar Einkommen ins Land bringen, doch dies führt nicht unbedingt zu einer höheren lokalen Wertschöpfung und damit zu Wachstum.

Doch müssen wir nicht für höhere Kosten und Pflegebedarf im Alter schon jetzt Kapital zurücklegen? Um den zukünftigen Bedarf an Dienstleistungen und Arbeitskräften nachhaltig zu garantieren, benötigt es kein hohes Sparvolumen bzw. Finanzvermögen, sondern eine fähige Wirtschaft, die die notwendigen Dienstleistungen erbringen kann. Für die Finanzierung einzelner Bedürfnisse ist sicherlich ein persönlicher Sparplan wichtig. Gesamtwirtschaftlich ist allerdings entscheidend, dass der Privatsektor und der Staat für ausreichend Nachfrage und Investitionen sorgen, um ein ausgeglichenes Wachstum zu generieren.

Ausgewählte Quellen:

Dr. Klaus Bauknecht ist als Chefvolkswirt der IKB Deutsche Industriebank AG verantwortlich für die volkswirtschaftlichen Analysen, Prognosen und Einschätzungen der Bank und schreibt dort auch im eigenen IKB-Blog. Zudem lehrt der promovierte Volkswirtschaftler an der Nelson Mandela University in Südafrika. Zuvor arbeitete er in verschiedenen leitenden Positionen anderer Banken und im südafrikanischen Finanzministerium. Er schreibt zu aktuellen und übergeordneten Konjunktur-, Volkswirtschafts- und Marktthemen.
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