Norbert Betz / Bild: BBAG
Das Jahr 2020 war ein ganz besonderes, keine Frage, und leider nicht nur an der Börse. Dort dominierten die Pandemie, die Wahl in den USA, der Brexit und, als Einzelfall, Wirecard. Die Folgen sind bekannt: Kurseinbrüche im März, relativ schnelle Erholung, hohe Volatilität. Aber: wer beispielsweise in ein DAX-ETF investiert hatte und übers Jahr nicht in sein Depot geblickt hatte, der stellt nun fest, dass sein ETF im Jahr 2020 einen Kursgewinn von 3,55 Prozent erzielen konnte. War da was?
Die Pandemie oder besser, die Folgen der Reaktion auf sie, haben wir noch immer nicht im Griff. Die Angst vor Mutationen nimmt zu. Sie hat uns einmal mehr gezeigt, dass jederzeit ein Schwarzer Schwan landen kann. Übersetzt: Unvorhergesehene Ereignisse sind in unregelmäßigen Abständen verlässlich, wir können ihnen nicht entgehen. Aber wir können uns gegen die Folgen absichern: ein gut aufgestelltes, breit diversifiziertes Depot mit Aktien, Fonds und ETFs sowie ein langfristiger Anlagehorizont und ein Mindestmaß an hektischem Aktionismus bewahren uns vor vielen schmerzlichen Erfahrungen. Ein Depot sollte wie eine Fußballmannschaft ausgelegt sein, die niemals aus 11 Stürmern besteht. Was uns an noch ein Ereignis im Horrorjahr 2020 erinnert: das 0:6 unserer Nationalmannschaft gegen Spanien! Gut, dass „Die Mannschaft“ nicht börsennotiert ist. Wenn der Sturm schwächelt und die Defensive versagt, nützt die beste Aufstellung nichts beziehungsweise war die Aufstellung doch nicht die Beste!

Wirecard und die Börsenpsychologie

Lassen Sie mich noch kurz einen Blick zurück auf den Fall Wirecard lenken. Eines vorab: An der Börse wie im "echten Leben" wird es immer Betrugsfälle geben. Seit Jahren warne ich vor „Börsenfallen“. War Wirecard eine absehbare Börsenfalle? Rückblickend ist man ja gerne klüger. Meine Ausführungen speisen sich aus Verhaltenspsychologie sowie jahrzehntelanger Beobachtung und richten sich an professionelle wie private Anleger. Und gerade Wirecard hat eine Vielzahl von sehr professionellen, institutionellen Anlegern und ausgewiesene Digitalexperten genauso getroffen wie Privatanleger. Woran lag dies?

Mahner sind nicht erwünscht

Da wäre an erster Stelle einmal mein Credo, dass Wahrnehmung nicht von wahr kommt. Die deutschen Medien und selbsternannte Börsen-Gurus waren voll des Lobes über Wirecard, hatte es doch ein Fintech aus dem Lande geschafft, international zu reüssieren. Die Financial Times hingegen, die früh vor Unregelmäßigkeiten warnte, wurde als eine Art Nestbeschmutzer behandelt. Das ist typisch: Wenn wir eine Aktie im Depot haben, ignorieren wir negative Nachrichten und klammern uns an positive. Und wenn so viele in eine Richtung laufen – und die enorme Entwicklung des Wirecard-Kurses zeigte dies ja in aller Deutlichkeit – fällt es uns sehr schwer, dagegenzustehen. Wir wollen mit dabei sein, wenn alle mit ihren (Buch-)Gewinnen prahlen, wir setzen auf Harmonie. Störer dieser Harmonie ergeht es nicht mehr wie einst Laokoon oder Kassandra, aber wir überziehen sie mit Anklagen wie Dan McCrum von der Financial Times.
 
Außerdem warne ich immer wieder vor „Hot Stocks“ an der Börse. Die machen Spaß, wenn sie laufen, aber sie bereiten schlaflose Nächte, wenn es einmal nicht mehr funktioniert. Sie können gerne zur Depotbeimischung und für den Adrenalinkitzel geordert werden, aber mit einer nachhaltigen Kapitalanlage haben sie nichts zu tun.

Selbsterkenntnis statt Selbstübeschätzung

Und zum Schluss: Mir hat eine ganz einfache Wahrheit geholfen, Wirecard-Aktien nicht zu kaufen: Investiere nicht in Dinge, die Du nicht verstehst! Und wo Rauch ist, ist (gelegentlich) auch Feuer. Aber, gerade für uns Männer ist es unheimlich schwer, zuzugeben, dass wir von etwas keine Ahnung haben. Wir schicken einen Touristen lieber in die falsche Richtung, bevor wir zugeben, den Weg nicht zu kennen. Und wie viele haben beteuert, Wirecard auf Herz und Nieren geprüft zu haben, und vom Geschäftsmodell voll und ganz überzeugt zu sein? Überschätzung der eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten ist an der Börse ein absolutes Eigentor.
 
Womit wir wieder beim Fußball wären: Jede Mannschaft schmückt ein spielfreudiger Ausnahmecharakter – aber elf solche Typen führen ins Chaos. Und, das oft zitierte 0:6 der deutschen Nationalmannschaft aus dem Jahr 1931 war ein Heimspiel gegen Österreich. Der deutsche „Reichstrainer“ hieß damals Otto Nerz. Er wurde nicht entlassen, erst 1936, als seine Mannschaft bei den Olympischen Spielen nach der zweiten Runde und einem 0:2 gegen Norwegen vorzeitig ausschied, wurde sein Co-Trainer Nachfolger: Sepp Herberger.
Der Artikel erschien zuerst in leicht veränderter Form im Nebenwerte Journal.