Europawahl - große Veränderungen für Aktienanleger?

Nicolas Wylenzek, Wellington Management
Nicolas Wylenzek / Bild: Wellington Management
Das politische Pendel schwingt nach rechts: Aktuellen Umfragen zufolge könnten extrem weit rechts angesiedelte Parteien bei den Wahlen der Abgeordneten für das Europäische Parlament vom 6. bis 9. Juni als die großen Gewinner hervorgehen. Parteien der politischen Mitte sollten meiner Meinung nach zwar insgesamt die Mehrheit behalten, das politische Kräfteverhältnis dürfte sich jedoch von Mitte links nach Mitte rechts verlagern, und die Europäische Volkspartei (EVP) wird voraussichtlich zur einflussreichsten Parlamentsfraktion avancieren. In den meisten Fällen dürfte die EVP weiterhin mit den Mitte-Links-Parteien stimmen, sie könnte aber auch eine Mehrheit mit den Mitte-Rechts-Parteien bilden, was ihr beträchtlichen Einfluss bei Themen wie Zuwanderung, Klima und der weiteren EU-Integration verschaffen würde. Wie sich diese potenzielle Verlagerung auf die EU-Politik auswirkt, wird von einer Reihe von Faktoren abhängen, unteranderem der Zusammensetzung der Europäischen Kommission, Veränderungen in der politischen Landschaft auf Ebene der Mitgliedstaaten und internationalen Entwicklungen wie dem Ukraine-Krieg und der US-Präsidentschaftswahl.

Auf Grundlage meiner jüngsten Gespräche mit Politikern rechne ich aber mit folgenden Veränderungen bei der EU-Politik:
  • Weniger grün: Teile der Wählerschaft sind der Meinung, dass bestimmte Klimaschutzmaßnahmen über das Ziel hinausschießen, insbesondere mit dem Nachlassen der Energiekrise. Meiner Ansicht nach wird die EU ihren Fokus auf Energieunabhängigkeit beibehalten, zusätzliche Maßnahmen auf dem Weg zur Klimaneutralität aber verlangsamen. Darüber hinaus könnten einige langfristige Initiativen wie die Produktion von grünem Wasserstoff an Fahrt verlieren.
  • Weniger Fokus auf EU-Integration: Die wachsende Unterstützung für extremere Parteien lässt darauf schließen, dass bei größeren Teilen der europäischen Bevölkerung immer mehr Vertrauen in staatliche Institutionen verloren geht. Für diese Wähler geht außerdem die europäische Integration zu schnell vonstatten und sie machen sich Sorgen über die nationale Souveränität. Fortschritte in Bereichen wie der Kapitalmarktunion könnten sich daher noch mehr verlangsamen, während es neue Vorschläge wie ein gemeinsamer Verteidigungsfonds schwer haben könnten.
  • Schärfere Regeln für die Zuwanderung: Die jüngst vereinbarte Reform der Asyl- und Zuwanderungsregeln hat Asylsuchenden den Zugang zur EU erschwert. Bedeutsame Mandatsgewinne der extrem rechts gerichteten Parteien könnten aber zu einer noch stärkeren Verschärfung führen. Eine solche Entwicklung könnte das ohnehin bereits knappe Angebot an Arbeitskräften noch zusätzlich einschränken.
  • Unternehmensfreundlichere Ausrichtung: Das aktuelle Europäische Parlament wird häufig dafür kritisiert, sich zu stark auf Regulierungsvorschriften auf Kosten der Wirtschaft zu konzentrieren. Möglicherweise werden bestimmte Maßnahmen zurückgefahren, vor allem in Branchen, die wichtig für die nationale Sicherheit und Widerstandsfähigkeit der Lieferkette sind, insbesondere Halbleiter und kritische Mineralien. Die Vorschriften für staatliche Beihilfen könnten auch dauerhaft gelockert werden.
  • Potenziell chinafreundlichere Politik: Das nächste Europäische Parlament könnte auch einen etwas chinafreundlicheren Kurs einschlagen, falls die extrem rechts gerichteten Parteien erfolgreich sind. Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine unterstützen Teile der extrem rechts gerichteten europäischen Parteien nun anstelle von Russland China. Ein zunehmend chinafreundliches Parlament könnte die Beziehungen zwischen der EU und den USA verkomplizieren, da die USA weiter für mehr Unabhängigkeit von China eintreten.

Was bedeutet dies für Anleger?

Eine Reduzierung des Verwaltungsaufwands könnte zwar eindeutig positiv für EU-Unternehmen sein, insgesamt würde ich den Richtungswechsel aber leicht negativ bewerten. Reformen zur weiteren Integration wie die Banken- und Kapitalmarktunion würden die Widerstandsfähigkeit der EU-Wirtschaft stärken und Wachstum fördern, während das Ermöglichen und Fördern der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte wichtig sein könnte, um die Inflation im Zaum zu halten und das Trendwachstum zu verbessern.

Ein günstiges fiskalpolitisches Umfeld

Die neuen Haushaltsvorschriften der EU verschaffen Mitgliedstaaten mehr Zeit, um Haushaltsziele zu erreichen, und verhindern drastische Kürzungen der Haushaltsausgaben, besonders in Verbindung mit Strukturreformen oder Investitionen. Die überarbeiteten Regeln sollen ärmeren EU-Staaten helfen, die in der Regel weniger als die größeren Volkswirtschaften von der jüngsten Lockerung der Vorschriften für staatliche Beihilfen profitieren. Meiner Meinung nach sollten die neuen Vorschriften auch dazu beitragen, eine Wiederholung der nach der globalen Finanzkrise beobachteten Sparpolitik zu verhindern. Während unserer Gespräche bestätigten EU-Politiker Verzögerungen bei dem EU-Wiederaufbauplan nach der COVID-Pandemie namens NextGenerationEU (NextGenEU). Da ein Großteil der Auszahlungen und Umsetzung noch aussteht, rechnen viele Politiker damit, dass sich das Programm über 2026 hinaus verlängert. Sie erwarten vorerst aber keine weitere umfangreiche Emission gemeinsamer Anleihen zur Finanzierung von Haushaltsausgaben.

Was bedeutet dies für Anleger?

Ich bin weiterhin der Ansicht, dass das fiskalpolitische Umfeld in Europa positiv überraschen wird, besonders in den Peripherie-Staaten, da diese Mitgliedstaaten die größten Nutznießer von NextGenEU sind und ich davon ausgehe, dass das Programm in den nächsten drei Jahren die größte Wirkung entfalten wird. Die gelockerten Haushaltsregeln stimmen mich ebenfalls zuversichtlich, da dies unnötige Kürzungen der öffentlichen Ausgaben verhindern sollte. Sowohl die bevorstehenden NextGenEU-Ausgaben als auch die weniger strikten Haushaltsregeln sollten Aktien zugutekommen, die von der EU-Binnennachfrage profitieren.

Die US-Präsidentschaftswahl im Fokus

Aus EU-Perspektive wäre eine Biden-Präsidentschaft deutlich unkomplizierter als ein Sieg von Trump, der eine ganze Reihe negativer Ergebnisse zur Folge haben könnte wie Strafzölle auf europäische Produkte, ein weiteres Auseinanderdriften der USA und Europas in Bezug auf die Beziehungen mit China, weniger Koordination beim Klimaschutz und weniger Kooperation/Koordination bei Verteidigungsfragen. Eine zweite Trump-Präsidentschaft könnte auch „EU-Abweichlern“ wie dem ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán und dem polnischen Präsident Andrzej Duda eine größere Plattform verschaffen.

Was bedeutet dies für Anleger?

Welchen Kurs die EU im Falle einer Trump-Präsidentschaft einschlagen würde, ist unklar. Aus meiner Sicht dürfte dies aber ein Reduzieren ihrer Anfälligkeit in Bereichen wie Verteidigung und der Energiewende beinhalten, während sie gleichzeitig versuchen dürfte, die Risiken in Zusammenhang mit der Unvorhersehbarkeit einer isolationistischen und transaktionalen Regierung zu minimieren. Dieses Szenario sollte Verteidigungsunternehmen zugutekommen, könnte aber auch Risiken für viele international tätige europäische Unternehmen bedeuten, die von globalen Lieferketten und begrenzten Zöllen profitieren.

Ein sich insgesamt verbesserndes Umfeld

Unter dem Strich bleibe ich trotz einer sich verändernden politischen Landschaft, die ich leicht negativ bewerten würde, in Bezug auf europäische Aktien aufgrund des sich verbessernden Wachstumsumfelds und der starken fiskalpolitischen Unterstützung positiv eingestellt. Dabei würde ich europäische Banken und Profiteure der EU-Binnennachfrage wie Reise- und Freizeitunternehmen bevorzugen. Ich halte aus zyklischer Sicht Verteidigungsunternehmen und aus eher defensiver Perspektive Unternehmen der Bereiche Gesundheit, Telekommunikation und Versorger für besonders attraktiv.

Allgemein lässt die jüngst starke Performance europäischer Märkte (ohne das Vereinigte Königreich) darauf schließen, dass globale Anleger im Zuge der allmählichen Erholung des europäischen Wachstums und aufgrund von Konzentrationsrisiken am US-Markt wieder stärker an europäischen Aktien interessiert sind. Für diesen Trend sehe ich noch weiteren Spielraum, wobei eine aktive Differenzierung angesichts des schnellen Anstiegs der Bewertungen in bestimmten Marktsegmenten immer wichtiger wird.
Nicolas Wylenzek ist Aktienstratege bei Wellington Management