2024 – Sechs Themen

Jonathan W. Hubbard, Benoit Anne und Brad Rutan, MFS Investment Management
Benoit Anne / Bild: MFS Investment Management
Mehrere wichtige Themen dürften Konjunktur und Märkte 2024 bestimmen. In den USA wuchs die Wirtschaft letztes Jahr wieder stärker, und die Inflation ging zurück; in Europa und vielen Emerging Markets blieb das Wachstum aber schwach. Zum Jahresende straffte die Fed ihre Geldpolitik nicht weiter, und für 2024 stellt sie Zinssenkungen in Aussicht. EZB, Bank of England und viele andere Notenbanken dürften ihre Geldpolitik aber erst einmal nicht lockern.
 
Die gute Aktienmarktperformance hat viele Anleger 2023 überrascht. Zum Jahresende waren die Kurse deutlich höher als erwartet, doch war der Weg dorthin nicht frei von Rückschlägen. Im März begegnete die Fed der Regionalbankenkrise mit umfangreichen Finanzhilfen, um die Liquiditätsprobleme der Banken zu beheben. Mit ihren zielgerichteten und letztlich erfolgreichen Maßnahmen dämmte sie die Krise ein, ohne die Leitzinsen senken zu müssen. Die Fed konnte ihren Kampf gegen die Inflation fortsetzen und dürfte ihn auch gewinnen. Gemessen am MSCI AC World Index legten internationale Aktien um über 20 Prozent zu, und nach zwei Verlustjahren in Folge lagen auch internationale Anleihen (gemessen am Bloomberg Global Aggregate Index) wieder im Plus.
 
Zur Jahresmitte herrschte an den Aktienmärkten große Euphorie, nicht zuletzt wegen der hohen Erwartungen an die Künstliche Intelligenz. Kräftig gestiegen sind vor allem die sogenannten Magnificent Seven – sieben riesige US-Technologieunternehmen, die dank hoher Gewinne und stabiler Finanzen unverwundbar scheinen. Die Vergangenheit lehrt uns aber, dass solche Gruppen von Aktien selten längere Zeit gleich erfolgreich sind. Umso wichtiger ist es, jedes Unternehmen einzeln zu analysieren, zumal das Investmentumfeld kaum einfacher wird. Die Weltlage droht instabiler zu werden, die Staatsschulden steigen ebenso wie die Refinanzierungskosten, und weltweit verändern sich die Lieferketten. Mehr denn je glauben wir, dass die Zusammenarbeit der Analysten unserer internationalen Researchplattform entscheidend für eine erfolgreiche Kapitalanlage ist.

Reglobalisierung statt Deglobalisierung

Das Welthandelssystem ist ständig im Fluss. Die internationalen Beziehungen ändern sich ebenso wie die Branchenschwerpunkte der Länder und zahlreiche wirtschaftliche Faktoren. Wichtige Wendepunkte für den Welthandel waren 1944 die Gründung des Bretton-Woods-Systems, 1957 die Gründung der EWG und 2001 Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO. In den letzten Jahren sorgten zunächst der Brexit, das NAFTA-Nachfolgeabkommen USMCA und die neuen US-Zölle auf ausgewählte chinesische Importe für größere Veränderungen der Handelsströme, später dann Corona und der russische Einmarsch in die Ukraine. Die Energieversorgung wurde gestört, und manche Unternehmensaktiva wurden obsolet, was wiederum Folgewirkungen hatte. Hinzu kommt, dass sich die Länder in wichtigen Bereichen wie der Halbleiterproduktion heute weniger vertrauen – und deshalb größeren Wert auf nationale Sicherheit legen als auf wirtschaftliche Effizienz.
 
Wird all das zu einer deglobalisierten Welt führen, in der Autarkie und Protektionismus mehr zählen als Wettbewerbsvorteile? Wir glauben das nicht. Der Wohlstandsgewinn durch den Welthandel ist zu groß, um ihn zu ignorieren. Vielmehr sehen wir eine Tendenz hin zur Reglobalisierung. Lieferketten ändern sich, und es entstehen neue Allianzen. Reshoring, Automatisierung, Friendshoring und der Aufbau von Reservekapazitäten sind die Gebote der Stunde. Die USA ermutigen ihre Unternehmen durch Bundeshilfen und andere Anreize dazu, vor allem durch den Inflation Reduction Act und den CHIPS and Science Act. In Europa analysiert die Politik gerade, wie sie strategische Partnerschaften fördern soll, um eine Fragmentierung des Außenhandels zu verhindern. Profitieren könnten davon vor allem jene Emerging Markets, die bislang im Schatten Chinas standen.

Wachsende Herausforderungen durch weltpolitische Risiken

Der russische Einmarsch in die Ukraine und der Terrorangriff der Hamas haben die Welt erheblich unsicherer gemacht. Der von zwei Fed-Volkswirten entwickelte, viel beachtete Index für weltpolitische Risiken (Abbildung unten) ist nach dem Angriff auf Israel auf den dritthöchsten Wert seit 9/11 gestiegen. Demnach sind die Risiken seit Beginn des Ukrainekriegs deutlich höher als in den Jahren 2004 bis 2021. Ein baldiger Rückgang scheint nicht zu erwarten, denn es ist kaum mit einem schnellen Ende der aktuellen Krisen zu rechnen. Sie könnten noch länger anhalten, nicht zuletzt wegen ihrer historischen Wurzeln und des Mangels an echten Lösungsvorschlägen. Für neue Spannungen könnten auch die schlechteren Beziehungen zwischen den USA und China sorgen. Hinzu kommt, dass 2024 (nach Angaben des Integrity Institute) in 78 Ländern gewählt wird, die zusammen etwa die Hälfte der Weltbevölkerung stellen. In der stark polarisierten Welt von heute spricht dies nicht gerade für eine Entschärfung der (welt-)politischen Risiken. Die anstehenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den USA machen die Sache nicht einfacher. Weltpolitische Risiken sind nur schwer prognostizierbar, sodass man sich als Anleger kaum darauf vorbereiten kann.

Weder die Wahrscheinlichkeit einer Krise noch Zeitraum, Ausmaß und Dauer sind leicht abzuschätzen. Das gilt auch für mögliche Folgewirkungen, von denen viele auf den ersten Blick unplausibel scheinen. Aus Risikomanagementsicht halten wir es daher für wenig sinnvoll, bei der Portfoliopositionierung einzig auf die Politik zu achten – einfach deshalb, weil es sich bei politischen Ereignissen oft um Schwarze Schwäne handelt. Man kann das Unerwartete nicht erwarten, auch wenn es im Rückblick oft so scheint. Dennoch gibt es Strategien, mit denen Investoren ihr Risikomanagement verbessern können.

Die Spitze entwickelt sich auseinander

Fast scheint es, als folgten die Magnificent Seven dem Kalender: Der Bloomberg Magnificent 7 Index erreichte Ende Dezember 2021 seinen Höchststand und Ende Dezember 2022 seinen Tiefpunkt. Mittlerweile hat er seine Verluste vollständig wettgemacht und ist im Dezember 2023 auf ein neues Hoch gestiegen. Natürlich orientiert sich der Index nicht an der Sonne, aber mit über 100 Prozent Wertzuwachs hat er 2023 kräftig zugelegt. Die sieben Aktien haben gewisse Gemeinsamkeiten – große Technologieunternehmen mit eigenen Plattformen –, aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Nach der traditionellen Einteilung stammen die Magnificent Seven aus drei verschiedenen Sektoren: Kommunikationsdienstleistungen, Konsumgebrauchsgüter und Informationstechnologie. Die Mainstream-Medien neigen dazu, sie zusammenzufassen, weil das so einfach ist. Es wäre aber kurzsichtig, sie als Einheit zu betrachten. Man sollte es daher lassen. Wir schließen nicht aus, dass sich die sieben Unternehmen in nächster Zeit sehr unterschiedlich entwickeln. Es wäre daher klug, jedes Unternehmen für sich zu analysieren statt als homogene Gruppe. Mehrere Magnificent Seven haben sich seit Jahrzehnten bewährt; ihre Finanzen sind stabil und ihre Zukunftsaussichten gut. Aber das gilt längst nicht für alle. Schon früher neigte man dazu, Aktien unter bestimmten Schlagworten zusammenzufassen. In den 1960ern und 1970ern waren es die Nifty Fifty, in den 2000ern Big Media und in den späten 2010ern die FANGs. Stets galt, dass sich die Einzelwerte am Ende doch wieder auseinanderentwickelten. Die Schlagworte waren plötzlich Makulatur.

Haushaltsdefizite und „Higher for Longer“

Wir haben ein Schuldenproblem. Man kann nicht bestreiten, dass das US-Haushaltsdefizit mit über 6 Prozent des BIP heute ungewöhnlich hoch ist. Ähnliche Defizite gab es sonst nur in Kriegszeiten oder Rezessionen, wenn die Fiskalpolitik die Konjunktur stützen sollte. Im langfristigen Durchschnitt seit 1969 betrug das US-Haushaltsdefizit (ohne Rezessionsjahre) nur 3,5 Prozent des BIP, also deutlich weniger als jetzt. Leider spricht nur wenig dafür, dass sich die amerikanische Politik in nächster Zeit um weniger Schulden bemüht, denn im Herbst stehen Präsidentschaftswahlen an. Am hohen Defizit dürfte sich so bald nichts ändern.
 
Übermäßige Haushaltsdefizite sind nicht unproblematisch. Erstens müssen sie finanziert werden, sodass der Staat mehr Anleihen begeben muss. Vor allem aber schränken sie den staatlichen Handlungsspielraum ein, sodass die Politik einem Konjunkturschock weniger entgegensetzen kann. Auch droht eine Überhitzung, wenn der Staat auch bei einer guten Konjunktur auf eine expansive Fiskalpolitik setzt. Der Fed würde es dann schwerer fallen, die Zinsen wieder zu senken, die sie zuletzt so stark erhöht hat. Einstweilen scheint das hohe Defizit dem Markt aber nicht sehr zu schaden. Dennoch machen sich Investoren Sorgen, sodass die Renditen steigen könnten. Nachdem seit März 2022 vor allem die Fed für höhere Zinsen gesorgt hat, dürfte es jetzt das US-Finanzministerium sein. Natürlich muss man die Haushaltsentwicklung im Blick behalten. Dennoch halten wir mangelnde Haushaltsdisziplin nicht für ein großes Anlagerisiko, zumindest kurzfristig. Mittelfristig könnte das anders sein. Bei den Auswirkungen der Fiskalpolitik auf den Markt gibt es oft einen Kipppunkt. Erst ab einer bestimmten Schwelle wird ein zu hohes Defizit zum Problem.

US-High-Yield: Jeden Stein umdrehen

MFS-Investmentstratege Rob Almeida weist darauf hin, dass viel von der Perspektive abhängt. Aus fünf Blocks Entfernung sieht man ein ganzes Haus, aber aus der Nähe nur einzelne Steine. Aus der Distanz scheinen spekulative Anleihen unter Druck; Umsätze und Cashflows der Emittenten haben sich seit 2021 verschlechtert. Die Zinsdeckungsgrade fallen seit mehr als einem Jahr, und nach Angaben der amerikanischen Handelsgerichte nehmen die Insolvenzen zu. Dennoch halten wir das Haus nicht für einsturzgefährdet. Insgesamt hat sich die Kreditqualität von High Yield deutlich verbessert, weil sich schwächere Emittenten jetzt häufiger über Bank Loans und Private Capital finanzieren. Der durchschnittliche Verschuldungsgrad, also das Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital, ist nicht höher als 2019. Wir halten auch die Sorgen wegen anstehender Refinanzierungen für übertrieben, da 2024 und 2025 nur Anleihen im Wert von 150 Milliarden US-Dollar fällig werden. Das scheint handhabbar; die Emissionen dürften sich in Grenzen halten. Statt sich aber nur das Haus anzusehen – den Markt, um im Bild zu bleiben –, interessieren wir uns mehr für die einzelnen Steine, also die Emittenten. Gerade jetzt muss man wählerisch sein, vor allem bei Firmen aus Problembranchen wie Gewerbeimmobilien, Festnetztelefonie und Einzelhandel. Sie müssen sich beeilen, weil der Anteil der Zinszahlungen an ihren Cashflows immer weiter steigt. Es gibt immer mehr Zombie-Unternehmen, die überraschend lange überleben, wie die Zombies im Kino. Am Ende wird sie aber das gleiche Schicksal ereilen.

KI: Die richtigen Fragen stellen

„KI“, kurz für Künstliche Intelligenz, lässt uns an grenzenlose Chancen, aber auch an unerwünschte Folgewirkungen denken. Vielleicht stellen Investoren aber auch nicht die richtigen Fragen. Als langfristige Investoren müssen wir sowohl die unmittelbaren als auch die langfristigen Auswirkungen neuer Technologien wie der KI vollständig verstehen. Was also fragen wir die Unternehmen? Von den etablierten Mega-Cap-Technologieunternehmen wollen wir vor allem wissen, wie sie ihren guten, aber nicht unüberwindbaren Schutz vor Wettbewerbern sichern wollen. Wir glauben, künftige Entwicklungen so am besten einschätzen zu können. Wird die generative KI, weil sie die Internetsuche verbessert, das Gewinnpotenzial klassischer Suchmaschinen zerstören? Bleibt das Smartphone das bevorzugte Gerät zur Nutzung Künstlicher Intelligenz? Werden Datenbesitz und Rechenkraft weniger konzentriert sein?
 
Auch außerhalb des Technologiesektors hat KI massive Auswirkungen. Welche anderen Unternehmen und Branchen werden betroffen sein? Wir glauben, dass KI sehr viele und sehr verschiedene industrielle Anwendungen hervorbringt. So könnten Pharmaunternehmen mit ihrer Hilfe die Medikamentenentwicklung beschleunigen und dabei auch noch Geld sparen. Finanzdienstleister könnten Unmengen von Kundendaten auswerten, und Energieunternehmen könnten Kosten senken und ihre Effizienz steigern. Zurzeit sind viele Aktienindizes so konzentriert wie selten zuvor, auch weil Investoren KI und anderen neuen Technologien so viel zutrauen. Wer aber wirklich die Gewinner von morgen identifizieren und hier in Zeiten großen technologischen Wandels investiert bleiben will, braucht umfassendes Fundamentalresearch, Neugierde und Disziplin.
Jonathan W. Hubbard ist CFA & Managing Director, Benoit Anne ist Managing Director und Brad Rutan CFA & Managing Director, Investment Solutions Grou bei MFS Investment Management