Adrian Roeste / Bild: HRK LUNIS
Blickt man auf die letzten Konjunkturindikatoren aus den Vereinigten Staaten und der Eurozone, darf man als Europäer zu Recht alarmiert sein. Die ökonomische Kluft zwischen den beiden Wirtschaftsräumen ist in diesem Jahr (wieder einmal) überdeutlich geworden. Wirtschaftlich wie technologisch fällt Europa jedoch schon seit der großen Finanzkrise stetig hinter die USA zurück. Krisen, so zeigt die Vergangenheit, beschleunigen das Auseinanderdriften zusätzlich.
 
Der alte Kontinent ist mit vielerlei Problemen konfrontiert. Neben dem schwachen Wirtschaftswachstum, pessimistischen Konsumenten, der drohenden Abwanderung von Industrien und einem zunehmenden technologischen Bedeutungsverlust kommen eine überbordende Bürokratie und die Bedrohung durch hohe Energiepreise dazu. Zudem wird Europa mit einem ressourcen- und kraftzehrenden Krieg vor der eigenen Haustür konfrontiert.

Dynamische Entwicklung in USA

Dagegen entwickelt die US-Wirtschaft wesentlich dynamischer und stärker. Während die amerikanische Ökonomie zuletzt um fast fünf Prozent wuchs, können die Europäer froh sein, wenn ihre Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte nicht in eine Rezession abgleitet. Trotz deutlich höherer Zinsen ist die Konsumfreude der US-Bürger ungebrochen. Zum Großteil sind dies Nachwirkungen der starken Unterstützung der privaten Haushalte während der Coronapandemie, die im Vergleich zu Europa viel höher war. So sanken die inflationsbereinigten Haushaltseinkommen in den beiden Coronajahren in vielen Ländern der Eurozone deutlich, die Bürger hatten also weniger Geld in den Taschen. In den USA stiegen sie hingegen um 5,5 Prozent an. Direkte Gehaltsschecks, Steuererleichterungen, eine Aufstockung von Arbeitslosenhilfen und Kreditmoratorien zeigten ihre Wirkung. Viele Haushalte konnten sich dadurch entschulden und obendrein eine Überersparnis aufbauen, von der die amerikanischen Konsumenten noch heute zehren.

Wettbewerbsvorteil Energiekosten

Zwar wurden auch in Europa während der Pandemiezeiten unfreiwillige Rücklagen aufgebaut, weil Restaurantbesuche oder Urlaubsreisen plötzlich nicht mehr möglich waren, doch die horrenden Energiekosten infolge des Ukrainekriegs fraßen diese Rücklagen schnell auf. Jenseits des Atlantiks blieben Öl und Gas deutlich günstiger. Die USA haben sich in den vergangenen Jahren als weltweit größter Ölproduzent vom Importeur zum Exporteur fossiler Brennstoffe gewandelt. Autarkie, hohe Versorgungssicherheit und Investitionen der Ölproduzenten, die vor allem die US-Industrie profitieren lassen, mildern die gesamtwirtschaftliche Belastung deutlich ab. Diese niedrigeren Energiekosten sind ein gewichtiger Wettbewerbsvorteil gegenüber Europa. Europäische Unternehmen zahlen für ihren Energiebedarf rund drei- bis viermal so viel wie ihre amerikanischen Wettbewerber.

Wettbewerbsvorteil Demografie

Ein langfristiger, struktureller Vorteil der neuen Welt ist in der demografischen Situation begründet. Hier sehen Europas Bürger mit einem Durchschnittsalter von 42 Jahren gegenüber 35 Jahren in den USA wortwörtlich alt aus. Eine ältere Bevölkerung ist in der Regel nicht so innovativ, konsumiert weniger, bringt weniger Unternehmer hervor und wirkt sich zusätzlich über eine schrumpfende Arbeitsbevölkerung belastend auf das Wirtschaftswachstum aus. Durch Einwanderung können die Effekte der alternden Gesellschaft gemildert werden. In den USA trugen Immigranten und ihre Kinder in den vergangenen 20 Jahren mehr als die Hälfte zum Wachstum der Erwerbsbevölkerung bei. Ein Viertel der Unternehmensneugründungen in den Vereinigten Staaten geht auf das Konto von Einwanderern – bei einem Bevölkerungsanteil von nur 15 Prozent. Europa ist dagegen, wenn es um die Anziehung und Förderung ausgebildeter ausländischer Fachkräfte geht, abgeschlagen.

Wettbewerbsvorteil Investition in F&E

Eine Studie der Technologieberatung Accenture zeigt, dass auf Unternehmensebene vor allem technologische Defizite ausschlaggebend dafür sind, dass Europas Großkonzerne den Anschluss verlieren. Seit Jahren investieren europäische Firmen deutlich weniger in Forschung und Entwicklung als ihre amerikanischen Konkurrenten. Diese Divergenz hat in den letzten beiden Jahren sogar noch deutlich zugenommen. In Europa geht es weiter steil bergab, während US-Firmen nach den Einschnitten der Coronazeit ihre Ausgaben wieder hochgefahren haben. In allen technologischen Zukunftsfeldern – von Künstlicher Intelligenz über Robotik, Cloud Computing, Big Data, Cybersicherheit, Mobilität bis hin zur Digitalisierung von Fertigungsprozessen – liegt Europa hinter den USA und meist auch den asiatischen Wettbewerbern. Während nur knapp 60 Prozent der europäischen Konzerne Patente für Künstliche Intelligenz halten, sind es in den USA mehr als drei Viertel – in Asien sogar fast 90 Prozent. Von den Top-20 Technologiekonzernen der Welt kommen gerade einmal drei vom alten Kontinent, dafür über zwei Drittel aus den USA. Europa wird zunehmend abhängiger von Technologie, Energie und Kapital aus den USA.

Aggressive Industriepolitik

Hinzu kommt eine deutlich aggressivere Industriepolitik Washingtons. Während sich die Eurozone wirtschaftspolitisch reserviert zeigt, betreiben die USA unter dem Deckmantel der Transformation hin zu einer klimaverträglichen Produktion und Unabhängigkeitsbestrebungen bei der Halbleiterproduktion eine mächtige Industriepolitik alter Couleur. Mit gewaltigen Summen fördert die Biden-Regierung Investitionen in die heimische Halbleiterindustrie (CHIPS Act) und grüne Technologien (Inflation Reduction Act). Praktisch alle Sektoren profitieren zudem von umfangreichen Steuererleichterungen. Kein Wunder, dass europäische Großkonzerne, die einen Standortwechsel recht problemlos realisieren können, angesichts dieser Wettbewerbsvorteile Abwanderungsgedanken hegen. Zwar läuft auch in der Europäischen Union mit dem Krisenfonds Next Generation EU ein riesiges Transformationsprogramm. Die US-Subventionen sind jedoch viel effizienter, da sie sichtbarer, stärker auf die Industrie fokussiert und mit deutlich weniger bürokratischen Hürden versehen sind. Die Regeln sehen vor, dass aus dem europäischen Hilfsfonds lediglich mindestens 37 Prozent in Klimaschutzinvestitionen fließen müssen. Teilweise werden auch Ausgaben finanziert, die von den Mitgliedstaaten ohnehin getätigt worden wären.

Es gibt auch Hoffnungsschimmer für Europa

Bei allen Negativfaktoren finden sich aber auch Hoffnungsschimmer für Europa. So kosten die amerikanischen Subventionsprogramme und Investitionsanreize Milliardensummen, die das US-Staatsdefizit immer weiter ausufern lassen. Eine Ausgabendisziplin, wie sie die europäischen Regierungen zuletzt wieder stärker an den Tag legen, fehlt in den USA völlig. Schon im vergangenen Jahr zog das staatliche Budgetdefizit auf 5,5 Prozent an. In diesem Jahr sollen es weit über sechs Prozent werden. Zum Vergleich: In der Eurozone werden es dieses Jahr im Schnitt 3,4 Prozent der Wirtschaftsleistung sein – Tendenz fallend. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die US-Schulden in fünf Jahren rund 140 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen werden, während dieser Wert in der Eurozone in Richtung 80 Prozent-Marke sinkt. In einer Zeit höherer Zinsen impliziert dies für die USA eine rasant steigende Zinsbelastung, die früher oder später den fiskalischen Spielraum einengen, das Wirtschaftswachstum belasten und die Zinsen weiter in die Höhe treiben wird.
 
Ein weiterer Lichtblick liegt in der Fachkräftemigration in die Eurozone. Viele europäische Regierungen haben verstanden, dass sie der Überalterung ihrer Gesellschaften nur mit einer stärkeren Zuwanderung qualifizierter Kräfte entgegenwirken können und ihre Regelwerke überarbeitet. So ist die Arbeitsmigration nach Deutschland in den letzten beiden Jahren stark angestiegen. In den USA ist die Migration unter Präsident Trump dagegen stark zurückgegangen und hat sich seitdem nicht wieder erholt. Gelingt es den Europäern, bürokratische Hürden abzubauen, Unternehmen und Unternehmer besser zu fördern und bessere Voraussetzungen für technologischen Fortschritt „made in Europe“ zu schaffen, könnte der Trend der letzten Jahre revidiert werden und sich die ökonomische Kluft zwischen den beiden Wirtschaftsräumen zugunsten Europas verbessern.
Adrian Roestel ist Leiter Portfoliomanagement bei HRK LUNIS Vermögensverwaltung