Norbert Betz / Bild: BBAG/Killius
In den vergangenen 30 Jahren hat es immer wieder – für viele überraschend – Crashs gegeben. Der schwarze Montag von 1987, übrigens auch getrieben durch hohe Inflation, die Dotcom-Blase von 2000, die Finanzkrise ab 2007 mit folgender Euroschuldenkrise, Corona und die aktuelle, egal ob man sie nun Ukraine-Krieg, Rückkehr der Inflation oder fehlende Energieversorgung nennen möchte, führten zu erheblichen Einbrüchen auf den Aktienmärkten. Es hat mal länger, mal kürzer gedauert, bis die Vorkrisenkurse wieder erreicht worden sind.
 
Und jedes Mal wiederholte es sich, dass zum einen behauptet wurde, so etwas habe es noch nie vorher gegeben, und andererseits alte Hasen darauf hinwiesen, so sei eben Börse und man müsse darauf vorbereitet sein. Anders ausgedrückt: Schwarze Schwäne kündigen sich nicht an – aber, dass sie uns gelegentlich Besuche abstatten, sollten wir im Hinterkopf behalten. Insofern versuche ich einmal als alter Hase einen im wahrsten Sinne des Wortes Psychologie-Crash-Kurs für Anleger – ein wenig literarisch unterfüttert.

Erstens: Keine Panik

„Es ist nichts zu fürchten als die Furcht“ – Ludwig Börne
 
Ein Blick auf die wesentlichen Indizes dieser Welt beweist, seit Jahresbeginn lagen die meisten zweistellig im Minus und haben sich erst in den vergangenen Wochen wieder etwas erholt. Viele spürten und spüren dieses Minus schmerzhaft in ihrem Depot. Die Angst vor einem finanziellen Verlust ist im gleichen Hirnareal angesiedelt wie die Angst vorm Tod – Steinzeitmenschen hatten nun mal noch keine Geldprobleme, aber ein Säbelzahntiger kam gerne mal um die Ecke. Das Gehirn schüttet Kortisol aus, wir können nicht mehr klar denken, verstecken oder weglaufen sind die einzigen Optionen, die uns umtreiben. Verkaufen ist weglaufen – doch in den meisten Fällen ist es wesentlich opportuner, einmal tief durchzuatmen, sich sein Depot genauer anzusehen und zu überlegen, welche Werte darin längerfristig von der aktuellen Krise vielleicht sogar profitieren könnten. Man mag sich auch von typischen Schönwetteraktien trennen und eine größere Cashposition aufbauen, aber, blind aus allen Investments auszusteigen, ist keine Option. Noch einmal, Panik ist ein schlechter Ratgeber und man muss nicht allen Lemmingen folgen!

Zweitens: Wahrnehmung hinterfragen

„Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allersten Mal wirklich sieht“ – Christian Morgenstern
 
Wie verarbeiten wir Informationen und was folgern wir daraus, ist eine wesentliche Frage auch bei der Kapitalanlage. Wir können unmöglich alle Reize, alle Informationen, gleichermaßen aufnehmen und verarbeiten, also haben wir Mechanismen entwickelt, sie zu filtern. Mit der Folge, dass es nur die außergewöhnlichen Reize schaffen, jederzeit zu uns durchzudringen: Todesangst und Sex etwa. Etwas harmloser: schlechte Nachrichten toppen gute Nachrichten, das weiß schon jeder Zeitungsvolontär. Wir nehmen dasjenige besser wahr, das wir schon kennen, Vorurteile und die Urteile der Mehrheit spielen eine große Rolle. Die so gerne gepflegte „political correctness“ ist Ausdruck dieses Hanges, nicht anzuecken – und niemand fragt sich ernsthaft, was politische Unkorrektheit eigentlich sein soll (und ob wir sie nicht nötig hätten)! Die neuen Medien, die sozialen Netzwerke, verstärken diesen Selektionsprozess eher noch. Wir haben für alles eine Schublade, die wir je nach Bedarf füllen oder ziehen. Wissenschaftlicher ausgedrückt: Wir bedienen uns verschiedener Heuristiken, um die komplexe Wirklichkeit in verdauliche Scheiben zu teilen. Für Ihr Depot bedeutet dies, lassen Sie sich nicht beeinflussen von Einflüsterungen ringsum, informieren Sie sich auf breiter Quellenbasis, hinterfragen Sie gängige Einsichten gerade auch auf die dahinterliegende Intention. Berücksichtigen Sie keinesfalls nur Meinungen, die ihre unterstützen.

Drittens: Ego einnorden

„Manche Hähne glauben, dass die Sonne ihretwegen aufgeht“ – Theodor Fontane
 
Wir kennen das aus dem Büro oder vom Sport: Erfolge schreiben wir unserer eigenen Leistung zu, Misserfolge liegen am Kollegen oder der Chefin, am Schiedsrichter oder am schlechten Rasen. Wenn wir an der Börse, wie es in den vergangenen Jahren seit der Finanzkrise der Fall war, permanent Rendite einfahren, fast schon egal, in welche Aktie(n) wir investiert haben, halten wir uns für ausgefuchste Spekulanten. Börse schafft Millionäre am laufenden Band, wollen uns eine Vielzahl von Neuerscheinungen oder Seminaren von selbsternannten Gurus glauben machen. Das Handelsvolumen von Zertifikaten geht durch die Decke, alle wollen von märchenhaften Hebelwirkungen profitieren. Eine gesunde Selbsteinschätzung tut not, und viele Anleger mussten seit März dieses Jahres schmerzlich erfahren, dass Schönwettersegeln im Sturm nicht weiterhilft, dass das Depot so aufgezurrt sein muss, dass es auch dies aushält.

Viertens: Risiko einschätzen

„Für Börsenspekulationen ist der Februar einer der gefährlichsten Monate. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Oktober“ – Mark Twain
 
Dass Risiko und Chance zwei Seiten einer Medaille sind, ist eine Binsenweisheit. Trotzdem fallen wir immer wieder darauf rein: Wir wählen dasjenige Vehikel aus, das uns die meiste Rendite verspricht und verschmähen die Langweiler. Doch jetzt, im Bärenmarkt, sind es genau jene seriösen Brot- und Butter-Titel, deren Rücksetzer sehr viel moderater ausfallen als bei den noch zu Jahresbeginn hochgelobten High-Flyern. Nichts gegen Investitionen in spannende Wachstumswerte, doch die Basis eines Wertpapierdepots, das den Namen „Wert“ mit Recht trägt, sollten Titel aus Branchen ausmachen, deren Güter auf lange Sicht mehr notwendig als nur wünschenswert sind! Und Achtung bei Wachstumswerten: Nur weil ihre Kurse einmal Höhenflüge unternommen haben, bedeutet dies nicht automatisch, dass diese Ziele auch jemals wieder erreicht werden. Es gibt mehr Eintagsfliegen als Elefanten auf der Welt!

Fünftens: Strategie erhalten

„Der Verstand und die Fähigkeit ihn zu gebrauchen, sind zweierlei Fähigkeiten“ – Franz Grillparzer
 
Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, ob die langfristig konzipierte Kapitalanlage trägt oder nicht. Es ist Zeit, die eigene Strategie zu hinterfragen, aber nicht unbesehen Hals über Kopf über Bord zu werfen. Kann sie trotz aktueller Verluste beibehalten werden, weil sie auf lange Sicht trägt? Sind Modifikationen notwendig oder muss ein harter Strategiewechsel durchgeführt werden? All dies sind legitime Fragen, doch kein Freibrief, hin und her zu ordern ohne Sinn und Verstand. Stehen Sie zu Ihrer Strategie, auch wenn Ihnen der Wind entgegenbläst.
 
Vertrauen Sie Ihrem gesunden Menschenverstand und misstrauen Sie Ihrem Ego, dann sind Sie vor den gröbsten Fehlern an der Börse (und nicht nur dort) gefeit. Oder, mit einem literarischen Schlusswort: „Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt“, Hermann Hesse.
Dieser Text ist zuerst im Nebenwerte-Journal erschienen.
Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München, setzt sich seit Jahren mit den Psychofallen an der Börse auseinander: als leidenschaftlicher Trader wie als distanzierter Marktbeobachter, als Referent (online und offline) und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich Kirstein hat er Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015, erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben. Für die Börse München außderdem das Booklet Psychofallen an der Börse. Wie wir sie erkennen und vermeiden. (2. Auflage 2021)