Thomas Metzger / Bild: Bankhaus Bauer
Die Welt hat sich verändert – so lässt sich das erste Halbjahr 2022 durchaus treffend zusammenfassen. Und diese Erkenntnis gilt sogar in mehrfacher Hinsicht. Selbstverständlich ist dabei zunächst der Krieg in der Ukraine zu nennen. Auch wenn die letzten Jahre mit Blick auf die diversen Konflikte, u. a. in Nahost, sicherlich nicht als Zeit des Friedens bezeichnet werden können, konnten wir uns einen Krieg in Europa, wie er aktuell leider geführt wird, kaum noch vorstellen. Es ist eine Zeitenwende.

Krieg führt zu nachhaltigen Veränderungen

Neben der unglaublichen menschlichen Tragödie, welche natürlich an erster Stelle zu nennen ist, wird der Einmarsch Russlands auch politisch und wirtschaftlich zu nachhaltigen Veränderungen führen. So dürfte das Ziel einer Unabhängigkeit vom russischen Öl und Gas beispielsweise die Dynamik in der Energiewende deutlich verstärken. Auch eine politische Spaltung zwischen Europa und den USA auf der einen, sowie den BRICS-Staaten auf der anderen Seite, wird derzeit deutlich. Beispielsweise lassen China und Indien eine eindeutige Positionierung gekoppelt mit entsprechenden Sanktionen derzeit vermissen, was weite Teile der vom Westen verabschiedeten Sanktionen „ins Leere laufen lässt“.

Notenbanken schwenken um

Eine weitere nachhaltige Veränderung hat sich bereits im letzten Jahr angekündigt: Die Zeit des „billigen Geldes“ ist vorbei! Die anhaltend hohe Inflation zwingt die Notenbanken zum Handeln. Die hohen Teuerungsraten sind das Ergebnis einer weltweit extrem expansiven Geldpolitik im Zuge der Corona-Pandemie sowie der anschließenden dynamischen Erholung, welche zu Lieferkettenproblemen und einer entsprechenden Angebotsknappheit geführt hat. Der Krieg in der Ukraine und der damit einhergehende starke Preisanstieg der Energiepreise verschärft die Situation zusätzlich deutlich. Als Reaktion befindet sich die amerikanische US-Fed bereits mitten im Zinserhöhungszyklus. Lag der Leitzinskorridor zu Jahresbeginn noch bei 0,00 Prozent - 0,25 Prozent p. a., hat die Notenbank diesen bereits auf derzeit 1,50 Prozent - 1,75 Prozent p. a. angehoben. Weitere Zinserhöhungen werden zeitnah folgen; aktuell rechnen die Notenbanker mit einem Korridor von 3,25 Prozent - 3,50 Prozent p. a. zum Jahresende. Auch die schweizer und die britische Notenbank haben bereits Zinserhöhungen durchgeführt, während dieser Schritt im Fall der Europäischen Zentralbank für Juli angekündigt ist. Die Terminmärkte preisen in Europa aktuell einen Leitzins von 1,50 Prozent p. a. am Jahresende ein.

Rezession nicht unwahrscheinlich

Als Vermögensverwalter arbeiten wir stets mit Entscheidungen unter Unsicherheit. Momentan ist diese allerdings besonders hoch. So lässt die Unberechenbarkeit der politischen Akteure kaum eine zuverlässige Prognose für den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine zu. Auch die Notenbanken agieren in der aktuellen Situation flexibel, wie die zuletzt recht spontan angekündigte Zinserhöhung um 75 Basispunkte (zuvor waren lange 50 BP avisiert) durch die US-Fed verdeutlicht. Ohnehin sind die Währungshüter dies- und jenseits des Atlantiks für ihren notwendigen Spagat zwischen der Eindämmung der Inflation und dem Verhindern einer zu stark nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik nicht zu beneiden. Grundsätzlich erachten wir den Eintritt einer Rezession (vor allem in Europa) als nicht unwahrscheinlich, entscheidend für die Kapitalmärkte ist jedoch die Frage nach Umfang und Dauer dieser. Einiges dürfte mittlerweile bereits in den Kursen verarbeitet sein.

Aktien trotz moderater Bewertung kurzfristig kein sicherer Kauf

Trotz – oder gerade aufgrund – der hohen Unsicherheit, ist eine langfristige Einschätzung der Kapitalmärkte wichtig, obwohl diese nur Szenarien widerspiegeln kann und bei unvorhergesehenen Ereignissen, wie bspw. einem kompletten Gaslieferstopp durch Russland, angepasst werden muss. Grundsätzlich sehen wir die Aktienmärkte in einem Spannungsfeld derzeit vorherrschender Risiken (Krieg in der Ukraine, hohe Inflation/Zinsen, Rezession, Corona) auf der einen sowie langfristig teils schon sehr moderaten Bewertungen auf der anderen Seite. Deshalb erwarten wir in den nächsten Wochen zunächst eine Seitwärtsbewegung unter hohen Schwankungen, welche bereits zum Ende des ersten Halbjahrs zu beobachten war. Unser beschriebenes Basisszenario für die Aktienmärkte lautet also: Kurzfristig volatil, mittelfristig mit Chancen auf Besserung. In der Konsequenz bietet es sich an, die volatile Seitwärtsphase zum sukzessiven Kauf von günstig bewerteten Unternehmen mit einer starken Preissetzungsmacht zu nutzen, das Gesamtrisiko im Portfolio jedoch weiterhin z.B. über Absicherungsgeschäfte zu steuern bzw. zu reduzieren.
Thomas Metzger ist seit 14 Jahren Leiter Vermögensverwaltung beim Stuttgarter Bankhaus Bauer. Bereits zuvor war er im Portfolio Management, Wertpapierhandel und Aktien-Research sowie für mehrere Banken in den USA tätig. Zusätzlich doziert er an mehreren Hochschulen zu den Themengebieten Portfolio Management und derivative Finanzinstrumente. Bei einem breiten Publikum hat sich Metzger durch seine zahlreichen TV-Interviews, Fachbeiträge etc. einen Namen als Investmentspezialist gemacht.