Geringeres Wachstum und höhere Inflation durch anhaltende geopolitische Krise

Das Ökonomen-Team des Asset Managers AllianceBernstein (AB)
Grafik: AllianceBernstein(AB)
Gerade als sich die Weltwirtschaft von der COVID-19-Pandemie zu erholen begann, wurde die Welt durch die russische Invasion in der Ukraine ein zweites Mal erschüttert. Wie bei jedem geopolitischen Risikoereignis kann sich die Lage schnell ändern, was die Vorhersage der Wirtschaftsaussichten besonders schwierig macht.
Das Ausmaß der Auswirkungen auf Wachstum und Inflation wird davon abhängen, wie stark die Energiepreise steigen und wie lange sie hoch bleiben. Die Verbrauchernachfrage nach Lebensmitteln und energiebezogenen Rohstoffen ist weitgehend unelastisch: Höhere Preise für Lebensmittel und Benzin werden die Nachfrage nach diesen Gütern nicht verringern, sondern die Verbraucher dazu zwingen, weniger für andere Waren und Dienstleistungen auszugeben, was das Wachstum insgesamt bremst. Je länger es dauert, bis die Rohstoffpreise ein neues Gleichgewicht gefunden haben, desto stärker ist der Abwärtsdruck auf das globale Wachstum.

Rezessions ist möglich

Wir gehen davon aus, dass der Krieg in der Ukraine nicht alle Länder in gleicher Weise treffen wird. Vielmehr werden die europäischen Volkswirtschaften und einige Schwellenländer, die in erheblichem Maße mit Russland und der Ukraine verflochten sind, unverhältnismäßig stark betroffen sein. Die geografische Nähe und die nicht rohstoffbezogenen Handelsverflechtungen sind ein klarer Übertragungsmechanismus zwischen dem Krieg und den Wirtschaftsaussichten in Europa. Dies gilt auch für die Abhängigkeit Westeuropas von Rohstoffexporten aus Russland und der Ukraine; etwa ein Drittel des westeuropäischen Erdgases stammt aus Russland. Die Wachstumsrate des realen Haushaltseinkommens in Europa war bereits vor dem Krieg im Jahresvergleich negativ. Mit dem Anstieg der Energiepreise wird es für die Haushalte noch schwieriger werden, ihr Ausgabenniveau zu halten. Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass die europäische Wirtschaft in den nächsten Monaten in eine Rezession abgleitet, wenn der Krieg nicht bald beendet wird. Die europäischen Finanzbehörden könnten in der Lage sein, den Schlag für die Verbraucher durch steuerliche Unterstützung etwas abzufedern. Wenn sie in ausreichendem Umfang gewährt wird, könnte sie die Wachstumssorgen lindern.

Anstieg der Energiepreise

Die Aussichten sind weniger düster, je weiter man sich von Osteuropa entfernt, obwohl die Auswirkungen des Krieges immer noch zu spüren sein werden. Der Anstieg der Energiepreise kommt für die Weltwirtschaft zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Die Inflation ist in den USA und vielen anderen Ländern bereits auf einem Mehrjahrzehnthoch, und steigende Energiepreise werden nicht nur die Inflation in die Höhe treiben, sondern auch das Risiko erhöhen, dass die Inflationserwartungen aus den Angeln gehoben werden. Dadurch würde der aktuelle Inflationsschub länger anhalten und eine aggressivere geldpolitische Reaktion erzwingen.

Lieferketten unter Druck

Als ob dieses Risiko nicht schon genug wäre, dürften Krieg, Wirtschaftssanktionen und der damit verbundene Anstieg der Energiekosten die weltweiten Probleme im Transportwesen, das sich gerade erst von der Pandemie zu erholen begonnen hatte, noch verschärfen. Infolgedessen ist eine Entlastung der Lieferketten in weiterer Ferne, als es noch vor wenigen Wochen den Anschein hatte. Die Entwicklungen in China deuten auf dasselbe hin. Die Null-Toleranz-Politik für COVID-19-Fälle, die dort immer noch gilt, hat zu Abriegelungen in Großstädten geführt, die erhebliche Auswirkungen auf den Welthandel haben können. Dadurch wird sich die Erholung der Lieferketten weiter verzögern.

Straffere Geldpolitik aufgrund der Inflation

All diese Entwicklungen deuten auf eine höhere Inflation hin. Wir gehen davon aus, dass die meisten Zentralbanken ihre Geldpolitik weiter straffen werden, selbst wenn die Verbraucher aufgrund der steigenden Energiepreise mit einem Rückgang ihrer Realeinkommen rechnen müssen. Eine Straffung der Geldpolitik während eines energiebedingten Angebotsschocks steht zwar im Widerspruch zu den geldpolitischen Lehren der letzten Jahrzehnte. Doch angesichts der bereits hohen Inflation erwarten wir, dass die Fed, die Bank of England und viele Zentralbanken der Schwellenländer genau das tun werden.

Überschrift

Die Fed hat im März mit der Straffung der Geldpolitik begonnen, und wir erwarten in den nächsten Monaten bei jeder Sitzung Zinserhöhungen - und einen Beginn des bilanziellen Rückbaus. Auch die Bank of England wird die Zinsen wahrscheinlich weiter anheben, obwohl sich die Wachstumsaussichten im Vereinigten Königreich rapide verschlechtern. Was uns zu der Annahme veranlasst, dass der Straffungszyklus dort weniger nachhaltig sein wird als bei der Fed. Andere wichtige Zentralbanken von Neuseeland bis Kanada und in den Schwellenländern werden wahrscheinlich ebenfalls mit Zinserhöhungen beginnen oder diese fortsetzen. Lediglich die Bank of Japan (BOJ) und die Europäische Zentralbank (EZB) bilden wahrscheinlich eine Ausnahme unter den großen Akteuren. Wir erwarten daher, dass die Zinssätze weiter steigen und die Renditekurven sich weiter verflachen werden, während die Aktien- und Kreditmärkte in den kommenden Wochen und Monaten wahrscheinlich volatil bleiben werden.

Ersparnisse begrenzen Abwärtsrisiken

Auch wenn die jüngsten Entwicklungen fast einheitlich in eine negative Richtung weisen, bleibt die Perspektive wichtig. Die Wiedereröffnung nach COVID-19 hat das Wirtschaftswachstum weltweit deutlich über seinen langfristigen Trend hinausgetrieben. Insbesondere die US-Haushalte haben ein Reservoir an Ersparnissen angesammelt, das es ihnen ermöglichen wird, den Konsum in schwierigen Zeiten zu stabilisieren. Dies dürfte die Abwärtsrisiken begrenzen und das Ausmaß der wirtschaftlichen Störung begrenzen. Eine Verlangsamung muss keine Katastrophe sein. Die Geldpolitik mag zwar gestrafft werden, aber von einem sehr akkommodierenden Niveau aus, das noch immer Unterstützung bieten sollte. Und die Erfahrung zeigt, dass geopolitische Ereignisse die Wirtschaft normalerweise nicht lange ausbremsen.

Es bleibt ein großes "Wenn"

Solange sich die Spannungen in der Ukraine in den kommenden Monaten auflösen, dürfte die Beeinträchtigung des Wachstums eher vorübergehend als dauerhaft sein und die Störung der Wirtschaftsordnung wesentlich geringer ausfallen als in den vergangenen zwei Jahren. Aber das ist ein großes Wenn - das vorherrschende Thema ist derzeit die Unsicherheit.
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